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Debatte Europäische IdentitätBloß keine Leitkultur

Kommentar von Ilija Trojanow

Wer eine europäische Identität fordert, irrt. Es gibt nämlich auch nicht mal „die eine deutsche Identität“. Nur Vielfältigkeit hat Zukunft.

Ein tiefer Riss geht durch Europa Foto: dpa

T äglich wird Europa definiert. Podien landauf, landab werden bestellt mit der Frage: Wie kann man Europa erzählen? Oder: Was ist die Identität Europas? Es wird nicht einmal der Plural verwendet (Identitäten), nein, es soll eine solide, handfeste, verlässliche Identität her, und da sie so eifrig herbeibeschworen wird, muss man annehmen, dass sie nicht existiert.

Das ist eigentlich, wenn man sich entspannt auf dem Rasen ausstreckt und in die Sonne blinzelt, gar nicht so schlimm. Die Notwendigkeit von Gruppenidentitäten ist keineswegs bewiesen. Im Gegenteil. Wie viel Unheil sie angerichtet haben, ist bestens dokumentiert.

Die Aufgabe ist wahrlich kolossal, denn schon die nationale Identität entzieht sich intelligenter Definition. Ein deutscher Politologe, der den Eliten stets nach dem Mund redet, hat neulich zusammen mit seiner Ehefrau einen weiteren Versuch unternommen und dabei die Erkenntnis zutage gefördert, Deutschsein sei die Bereitschaft, fleißig zu sein, um sich und seine Familie ernähren zu können.

Wow! Die Dogon in Mali, die 16 Stunden am Tag schuften, um auf kargem Boden zu überleben, sind also Deutsche. Und der Null-Bock-Schlawiner (falls es diesen in Zeiten neoliberaler Zurichtung überhaupt noch gibt) muss ausgebürgert werden. Und was ist mit den Befürwortern eines Grundeinkommens? Lauter Undeutsche.

Orte der Begegnung

Derart lächerlich fallen alle Versuche aus, das artifiziellste aller Konstrukte, den Nationalstaat, mit Inhalt zu füllen. Nun soll dieses Perpetuum mobile des Scheiterns auf ein kontinentales Territorium erweitert werden, das einen hohen Wohlstand an Widersprüchen genießt. Der aufflammende kulturelle Nationalismus soll – Quadratur des Kreises, wenn es je eine gab – einem Europa zum Gleichschritt verhelfen.

Alle Unternehmungen und Bestrebungen in diese Richtung gehen von einem Kulturbegriff der Erstarrung aus: Kultur als eine Säulenhalle aus tradierten Gebräuchen und Vorschriften, gestützt von einer rigiden Verfestigung. Das mag dem Machterhalt dienlich sein, nicht aber einem lebendigen und reichhaltigen kulturellen Leben, das seit je von der Verflüssigung, von dem Fließen und Zusammenfließen geprägt war.

Anstelle einer immer wieder geforderten und gelegentlich mancherorts eingerichteten Leitkultur würde es völlig ausreichen, einen offenen kulturellen Gemeinschaftsraum zu ermöglichen: Orte der Begegnungen, wo unterschiedliche Ideen, Meinungen und Lebensentwürfe sichtbar werden und ausprobiert werden können, miteinander konkurrieren, wo die Vielfalt der Vorstellungen jenseits der Konformität auflebt.

Denn abgesehen von der realen Möglichkeit einer solchen pluralen Kulturgestaltung ist Europa von Gegensätzen zerrissen. Allein schon historisch. Welten trennen die ehemaligen Kolonialmächte von den ehemals kolonialisierten Ländern auf dem Balkan. Die Haltung von Frankreich etwa ist weiterhin in der nationalpolitischen DNA geprägt von der mission civilisatrice, dem anstrengenden, jahrhundertelangen Versuch, den Rest der Welt auf das eigene Niveau zu hieven.

Ein tiefer Riss durch Europa

Stolzes Produkt dieses Eifers waren die evolués, die – wie das Wort schon sagt – sich zu einem höheren Kulturstand hinaufentwickelt haben. Europäisierung bedeutete in diesem Zusammenhang, die schmutzigen und zerrissenen Fetzen außereuropäischer Kultur wegzuwerfen und sich in feinen Zwirn zu kleiden.

Die imperialen Vergangenheiten wirken ebenso fort wie der Kalte Krieg. Da die kommunistische Vergangenheit in den meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks kaum bewältigt ist, da eine Kontinuität der Eliten zu Korruption und Chauvinismus geführt hat (diese Piraten schwenken die blutige Fahne des Nationalen), geht ein tiefer Riss durch Europa. Eine Umfrage des Pew Research Center vom letzten Monat belegt das eindrucksvoll.

In den meisten EU-Staaten des Ostens, wo kaum Muslime leben (Bulgarien ist eine Ausnahme), herrschen heftige Ressentiments vor. 72 Prozent der ­Ungarn und 66 Prozent der Polen haben eine grundsätzlich negative Meinung über Muslime. In den Staaten mit vergleichsweise hohem muslimischen Bevölkerungsanteil (Frankreich: 7,5 Prozent, Deutschland: 5,8 Prozent, und Kleinbritannien: 4,8 Prozent) liegt die Prozentzahl der Islamophoben bei „nur“ 29 beziehungsweise 28 Prozent.

Das sind eklatante Differenzen, die bei den Reaktio­nen auf das Flüchtlingsdrama offen zutage treten. Wie soll man Europa an die hehren Ideale des „Schönen, Wahren, Gerechten“ andocken, wenn sich ganze Staaten jeglicher Solidarität und Mitmenschlichkeit verweigern?

Katastrophale Symbolik

Zudem zeigen diese Zahlen auf, was in vielen Studien schon bewiesen worden ist, dass nämlich Kenntnis voneinander keineswegs Verachtung schürt, sondern Differenzierung erst ermöglicht. Wie oft haben wir es erlebt, dass Antisemitismus ohne Juden aufkocht, dass ein Minarettverbot in jenen (Schweizer) Kantons am meisten Unterstützung findet, wo es gar keine Moscheen gibt, und dass die Ausländerfeindlichkeit dort grassiert, wo man Ausländer mit xenophober Lupe suchen muss.

Jenseits von Polemik und Dogmatik sind europäische Lösungen gar nicht so schwer zu finden, zumindest bedürften sie nicht täglicher rat- und mutloser Kopfkratzerei. Es darf keinen Zwang geben, sich zwischen Integration und Assimilation, zwischen Segregation und Ghettoisierung entscheiden zu müssen.

Die neuerliche Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft ist in ihrer Symbolik katastrophal. Denn beide Alternativen sind in ihrer Ausschließlichkeit gefährlich, weil sie ausgrenzen und begrenzen. Es ist gar nicht so schwer, die Logik des Entweder-oder zu überwinden. Eine Kenntnis der vielfältigen inneren und äußeren Widersprüche, des Individuums wie auch der Gesellschaft, gehören zur Lebenserfahrung, zum gesunden Menschenverstand.

Ein offener gemeinsamer Kulturraum ist ein realisierbares politisches Konzept, denn es richtet sich mit der geballten Kraft einer gelebten und gefeierten Kreativität gegen all jene, die Kultur per se verachten, die Identitären und Neu­tri­balisten, seien es islamistische oder deutschnationale Fanatiker.

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13 Kommentare

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  • Europäische Identität?! Also ick fange mal früh an.

    Nahezu alle in Europa lebende Christen bekommen die Religion von Ihren Eltern auf empfohlen. Ist vielleicht; fragwürdig,aber real. Dann in der Schule ist die gemeinsame Sprache Identitätsstiftend. Grimms Märchen sind europäische Märchen. Geschichte in der Schule behandelt nach den Pharaonen fast ausschließlich europäische Geschichte. Nahezu alle Fremdsprachen in der Schule sind Europäische. In Mathematik & Physik werden fast nur Europäer erwähnt. Die Philosophie ist sehr eurozentrisch. In Literatur und Kunst werden überwiegend europäische Epochen (Renaissance, Barock, Jugendstil, Aufklärung, Romantik) besprochen. Es wird auch über die mörderische Seite gesprochen (Kolonialismus, Nationalismus und seit neuestem auch über das kollektive Versagen der europäischen Eliten beimAusbruch der 1. Weltkriegs)

    In der Bildung insgesamt wird europäische Identität vermittelt. An den Unis gibt es das Erasmus-Programm und die Bologna-Reform. Wer in Europa Bildung und Erziehung durchlaufen hat , kommt an europäische Identität nicht vorbei. Und Klassische Musik hab ich noch garnicht erwähnt. Ich kann nur annehmen, das der Autor nur provozieren wollte. Wenn nicht, sollte er nochmal eine Schule besuchen in Europa, denn dann waere er ungebildet. Und das ist ja in der taz fast so schlimm wie Nazi zu sein. Im übrigen ist festzustellen, das die Artikel in der taz qualitativ nachlassen. Kein Vergleich zu den 90er Jahren.

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    Was der Autor völlig flasch versteht: eine gemeinsame Europäische Identität ist mitnichten eine Leitkultur. Es geht viel mehr um ein zusammengehörigkeits Gefühl verschiedener Völker in einer gemeinsamen, europäischen Schicksalsgemeinschaft die grundlegende Werte der Demokratie und Freiheit vertritt. Dass darin unterschiedliche und vielfältige Kulturen enthalten sind ist kein Widerspruch sondern vielmehr Voraussetzung einer vielschichtigen Identität die sich aus lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Wurzeln speißt.

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    Zu erst muss eine funktionierende europäische Konföderation geschaffen werden. Dann kommt die europäische Identität als Ergänzung zu unseren nationalen und regionalen Identitäten ganz von selbst.

  • "Es gibt nämlich auch nicht mal „die eine deutsche Identität“"

     

    Richtig. Es gibt ber sehr wohl eine bayrische, Rheinländische, westfälische und eine Pfälzer "Leit"-kultur.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @Jens Frisch:

      Diese deutschen regionalen Kulturen sind in der Summe die deutsche Kultur, welche wiederum in der Summe mit den anderen nationalen Kulturen in Europa die europäische Kultur bilden.

  • ;) - but -

     

    "…Wow! Die Dogon in Mali, die 16 Stunden am Tag schuften, um auf kargem Boden zu überleben, sind also Deutsche.…"

     

    Das kann nicht sein - denn

    "Die Weißen denken zuviel!"

    Nach Paul Parin et al -

    Ihnen zugeschrieben!

    kurz - Viel zu intelligent-lebensklug!;)

  • Ganz richtig, denn es gibt keine Leitkultur. Nur im Tierreich gibt es Leittiere zur Machterhaltung.

    Die Bundes-Republik besteht aus 16 Bundesländern, die sich auf einige Regeln inclusive Finanz-Ausgleich geeinigt haben: s. Grundgesetz der Länder und des Bundes.

    Eine solche Vereinbarung für eine Europäische Demokratie ist noch nicht zustande gekommen. Selbst die Menschenrechte der Französischen Revolution und der UN werden unterschiedlich interpretiert: Beispiel Asyl !

    In den Bundesländern werden solche Grundrechte unterschiedlich diskutiert. Z.B.: Ein Grundrecht ist ein Recht, das jedem Individuum persönlich zusteht. Deshalb ist eine "Mengenbegrenzung" (Obergrenze) für den einzelnen Menschen unlogisch.

    Es besteht offensichtlich in der BRD ein Bildungsproblem. Wir sollten uns zuerst auf unsere Bildungsvoraussetzungen einigen d.h. "integrieren".

  • Alles sehr nett und gut gemeint aber im Lösungsansatz ungeheuer wabrig - "geballte(n) Kraft einer gelebten und gefeierten Kreativität". ??

     

    Zunächst einmal haben wir ein immenses Integrations-Problem in wirtschaftlicher Hinsicht. Man/frau darf gerne wollen daß dies anders wäre, daß der Wirtschaft, der letztendlich ruinösen Leistungsfähigkeit, nicht eine derartige Bedeutung zugeschrieben würde. Aber letztendlich laufen auch die kretschmannisierten Grünen neoliberalen Multikultis diesem Ideal hinterher obwohl sie, fein wie sie sind, sich praktisch, d.h. gesetzgeberisch, nicht damit auseinandersetzen wollen. HartzIV haben sie nicht einmal "kritisch" begleitet. Abgesehen davon daß sie wie auch der Autor, übersehen daß die Arbeitswelt ebenfalls eigentlich ein Teil der Kultur ist.

     

    Aber dorthin werden jetzt naturhaft die Neuankömmlinge verdrängt - von Kultur keine Rede. Siehe: "Viele Flüchtlinge in der Schattenwirtschaft tätig - nach Recherchen von NDR Info arbeiten Flüchtlinge unter ausbeuterischen Verhältnissen teils unter einem Euro Stundenlohn". http://www.heise.de/tp/artikel/49/49293/1.html.

     

    Bitte damit aufhören ins einhornhafte Phantasiereich abzuschwurbeln - das tut schon Frau Merkel.

  • Wie wär's mit dem offiziellen Motto der EU: "In Vielfalt geeint" ?

  • Teilweise interessante Ansätze, aber ich finde die Argumentation in Zügen etwas undifferenziert und pauschalisierend. Warum können Vielfalt und auch Kontraste bzw. Widersprüche nicht Teil einer Identität sein? Warum wird Identität mit Nationalismus gleichgesetzt, wo doch die Ablehnung bis Bekämpfung des Konzeptes Nation zu ihrer individuellen und auch kollektiven Identität gehört? Und mit einer Identität müssen nicht nur positive Merkmale verbunden sein, sondern auch die Ecken und Kanten, der Schmutz, die Geschichte. Auch ein verruchter, schmuddeliger Teil einer Stadt kann zur Identität des Gemeinwesens gehören, der den Menschen als Identitätsanker dient und ihnen das Gefühl gibt, dort hinzugehören. Das kann im Einzelfall zu Aus- und Abgrenzung führen, aber eben auch zur Einladung, wenn dies zu den Identitätswerten der Gesellschaft gehört.

  • "Nur Vielfältigkeit hat Zukunft". Bei all den Worten bleibt vollkommen unklar weshalb dem so sein sollte. Was passiert, wenn wir in Zukunft feststellen, dass diese Aussage vollkommen falsch war und wir "das nicht geschafft haben".

     

    Auch die Frage nach der (gemeinsamen) Identität Europas bzw. deren Identitäten ist vollkommen falsch. Es gibt lediglich einen Kontinent der diesen Namen trägt. Mehr nicht. Dies sollte nicht mit der Europäischen Union verwechselt werden. Dabei handelt es sich lediglich um einen Staatenbund mit einzelnen Mitgliedern, wobei noch nicht einmal alle Nationalstaaten des Kontinents Mitglied sind oder in absehbarer Zeit werden. Also warum überbewerten? Und wie Herr Schulz so passend sagte, dieser Staatenbund kann gegebenenfalls auch scheitern. Gibt es dabei irgendetwas gemeinsam identitätsstiftendes? Um die Frage zu beantworten: Es gibt keine gemeinsame Identität Europas.

    • @DiMa:

      Die Geographie hat sich über die letzten hundert Jahre immer wieder neue Grenzen für den Kontinenten überlegt. Dieses Interview in der taz ist da ganz hilfreich: http://www.taz.de/!5042768/

       

      Ansonsten könnte man auch "europäische Werte" oder "Europäertum" bei Google reinwerfen und seinen Horizont erweitern. Ob ein Land in der EU ist, ist in der Tat zweitrangig. Die Mitgliedsstaaten sind sich der Bedeutung bloß bewusster als andere Staaten die nach der aktuell gängigen Definition auf dem Kontinenten Europa liegen.

  • Ich persönlich halte mit in puncto Leitkultur an Bierce' Definition des Abendlandes:

    "Jener Teil der Welt, der westlich (bzw. östlich) des Morgenlandes liegt. Größtenteils bewohnt von Christen, einem mächtigen Unterstamm der Hypokriten, dessen wichtigste Gewerbe Mord und Betrug sind, von ihnen gern ’Krieg’ und ’Handel’ genannt. Dies sind auch die wichtigsten Gewerbe des Morgenlands."