Debatte Entwicklung und globaler Süden: Auf Kosten der Ausgegrenzten
Der freie Markt nutze allen, behauptet die G20. Dass das nicht stimmt, lässt sich in Schwellenländern wie Indien beobachten.
V ernetzung, Kommunikation, Partnerschaft und Engagement sind nur noch symbolische Worte, die eine Welt voller Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit darstellen sollen. Aber Gemeinsamkeiten und Zusammenarbeit können nicht auf einen freien Markt und wirtschaftliche Interessen aufgebaut werden. Sie können erst recht nicht in einer Zeit vorgetäuscht werden, in der Handelsbeziehungen die globalisierte Welt dominieren – auf Kosten menschlicher Grundrechte.
Es wurde schon genug über die Ungleichheiten geschrieben, die in verschiedenen Teilen der Welt aufkeimen. Die Welt ist voller politischer und wirtschaftlicher Krisen, Umweltbelastungen und zunehmenden Eigeninteressen. Dennoch versprechen unzählige Gipfel Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit und Verantwortung. Obwohl sich die wirtschaftlich stärksten Länder bei G20-Gipfeln schon elf Mal getroffen haben, um die „Anpassungsfähigkeit der globalen Finanzsysteme“ zu stärken, befinden wir uns wieder einmal in einer Zeit der ökonomischen Unsicherheit und Konjunkturverlangsamung. Interessanterweise lassen auch die Hoffnungen auf mehr nachhaltige Entwicklung nach.
Entschuldigen Sie meinen Zynismus – ihm liegt kein Pessimismus zugrunde. Ich kann aber auch nicht blind optimistisch sein, wenn ich mir der wachsenden sozialen Ausgrenzung bewusst bin, die der freie Markt und die Globalisierung schaffen. Die Annahme, der Neoliberalismus sei unumgänglich und der Markt könne alle Möglichkeiten bieten, stimmt nicht. Besonders nicht in Indien, das durch hohe multidimensionale Armut, Geschlechterungerechtigkeiten, Umweltprobleme und den fehlenden Wandel in der Bildungs- und Gesundheitspolitik immer weiter im Index der menschlichen Entwicklung (HDI) sinkt.
Dennoch bleibt Indien ein beliebter Ort für ausländische Investitionen. Was das bedeutet? Immer wieder finden Vertreibungen und Landaneignungen statt; lokales Wissen und althergebrachte Fähigkeiten werden durch moderne Herangehensweisen ersetzt. Jedem Versuch, die Rechte und die Existenzgrundlage der Vertriebenen zu schützen, wird mit dem Vorwurf begegnet, so werde Indiens Entwicklungsagenda aufgehalten.
Die globalen Handelsbeziehungen sind undemokratisch
Im Namen der Entwicklung wurde das Kernkraftwerk Kundankulam gebaut, das größte Atomkraftwerk in Indien, das eine Gefahr für die Biodiversität darstellt und die ständige Bedrohung einer nuklearen Katastrophe mit sich bringt. Ebenso wurde es Fortschritt genannt, als die Behörden die Augen verschlossen vor dem giftigen Abfall der Wärmekraftanlage Essar, mitten in den herrlichen Wäldern von Mahan im Herzen Indiens, und vor der Zerstörung von Leben und Lebensräumen am Fluss Narmada durch den Bau der Sardar-Sarovar-Talsperre. Das, was der indische Staat unter Entwicklung und einer modernen Anpassung an den wachsenden Energieverbrauch versteht, hat gerade in den marginalisierten Bevölkerungsschichten großen Schaden angerichtet – mit Unterstützung von internationalen Investoren, der Weltbank und dem IMF.
Indien hat als aufstrebendes Schwellenland mittlerweile eine wichtige Position im globalen Handel. Das könnte eine Gelegenheit sein, die undemokratischen Strukturen der globalen Handelsbeziehungen anzugehen, die seit Langem als Status quo etabliert sind. Doch die aktuellen Tendenzen der indischen Handelspolitik scheinen eher totalitär als demokratisch. Das Fehlen von Infrastruktur, Umweltregulierungen, angemessenen Arbeitsgesetzen und anderer ethischer Handelsgrundsätze in Indien widerspricht der populistischen Behauptung, der freie Markt nutze allen.
Symbolischen Gesten à la G20? Überflüssig
Die Richtlinien für Handel und Investitionen können nicht vollständig in ein gemeinsames Rahmenwerk gepresst werden, sondern müssen die rechtlichen Besonderheiten jedes Landes respektieren. Doch das zunehmende Verschwinden einheitlicher Regularien des Finanzsystems – diese zu schaffen war eigentlich das Gründungsmoment der G20 – bedeutet eine weitere Ausbeutung der Entwicklungsländer und ihrer Bevölkerung. Die Freihandelsabkommen, die aus dieser Zusammenarbeit hervorgehen, spülen Gewinne in die Taschen internationaler Konzerne – auf Kosten kleinerer Produzenten und Unternehmen aus den Entwicklungsländern.
Der G20-Gipfel bleibt eine weitere symbolische Geste, festgehalten in perfekt ausgefeilten Kommuniqués. Er bleibt eher eine Ermutigung der Mächtigen, als dass er den Weg für einen sinnvollen sozialen Wandel ebnet, was Gleichberechtigung schaffen und das Leben der an den Rand Gedrängten verbessern würde. Die Welt aber braucht echtes politisches Handeln statt bloßer Symbolpolitik – das könnte heutzutage nicht eindeutiger sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich