Debatte Einwanderung aus dem Balkan: Nicht genug Leid?
Flüchtlingen aus dem Balkan wird vorgeworfen, allein auf der Suche nach Wohlfahrt zu sein. Doch so einfach ist das nicht.
Natürlich sind die Menschen, die vom Balkan kommen, Flüchtlinge, die der Armut und Perspektivlosigkeit entrinnen wollen. Doch diese Menschen einfach als „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu diskriminieren, denen es nur darum geht, unsere Sozialsysteme auszunutzen, wie es vor allem die bayerischen Christsozialen behaupten, ist ungerecht.
Gerade jene in Deutschland, die keine Worte finden, um den Anschlägen auf Flüchtlingsheimen entgegenzutreten, und wenig zur Aufklärung und Bestrafung der Täter tun, wollen sich dem Phänomen der Flüchtlinge aus Europa nicht wirklich stellen. Dabei haben wir als deutsche Gesellschaft Verantwortung auch in Bezug auf diese europäische Region, sind wir doch wirtschaftlich und politisch eng mit den Ländern dort verbunden.
Die Welle von Flüchtlingen aus dieser Region zeigt nämlich auch, welcher politische Zündstoff nach wie vor in dieser Region lagert. Wir müssen aufpassen, dass uns eines Tages nicht alles wieder um die Ohren fliegt. Der jahrelang anhaltende Konflikt mit Griechenland hat leider den Blick auf die gesamte Region verstellt. Darunter hat das Vermögen der Öffentlichkeit gelitten, sich mit den anderen Gesellschaften des Balkans ernsthaft zu befassen.
Kein Mensch will leichtfertig seine Heimat aufgeben, auch nicht die Menschen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Kosovo und Albanien. Seit Aufhebung des Visazwangs in Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Serbien und Montenegro ist es deshalb gar nicht zu der befürchteten Völkerwanderung gekommen, die von vielen prognostiziert worden war. Die Menschen wollen, wenn es geht, in ihrer Heimat bleiben.
Tiefsitzender Anti-Zigeuner-Reflex
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich bei dem Gros der europäischen Flüchtlinge vor allem um Roma aus der gesamten Region und Albaner aus dem Kosovo handelt. Selbst in den sonst kritischen Medien wird sorgsam vermieden, die Volksgruppe der Roma überhaupt zu benennen. Dies kann getrost als Anzeichen dafür gesehen werden, wie tief der Anti-Zigeuner-Reflex in unserer Gesellschaft immer noch sitzt. Daran hat auch die endlich stattgefundene Anerkennung der Verfolgung der Roma und Sinti während des Nationalsozialismus, die in der Ermordung von Hunderttausenden gipfelte, nichts geändert.
Mit dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens wurden die Menschenrechte und die Würde der Romabevölkerung dort zunehmend verletzt. Das sozialistische System in Jugoslawien hatte den Roma eine ernsthafte Perspektive der Integration in die Gesellschaft geboten. Selbst in den stalinistischen Systemen Bulgariens und Rumäniens ging es den Roma besser als heute, obwohl beide Länder jetzt Mitglied in der Europäischen Union sind.
Die tägliche Zurücksetzung und Benachteiligung der Roma in Bulgarien, Rumänien und in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Bezug auf den Arbeitsmarkt, den Zugang zur Bildung und zum Gesundheitssystem gipfelt sogar in tätlichen Übergriffen. Von „sicheren Herkunftsländern“ zu sprechen klingt in den Ohren dieser Volksgruppe wie Hohn. Für die Roma bieten diese Länder keine sichere „Heimat“ mehr.
Anders gelagert ist die Flucht von Albanern aus dem Kosovo. Obwohl in der kosovarischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit 2008 deutliche Fortschritte in Bezug auf Infrastruktur und Wirtschaft gemacht worden sind, verlieren viele Kosovaren die Geduld. Denn die Gesellschaft ist jung, die jüngste in Europa, sie ist tatendurstig und lernbegierig, die jungen Menschen wollen ein normales europäisches Leben führen.
Bei einer Arbeitslosigkeit bis zu 70 Prozent jedoch ist dies nicht möglich. Obwohl das Land sehr intensiv von Institutionen der internationalen Gemeinschaft „betreut“ wird – es gibt ja neben der teuren und wenig effektiven EU-Rechtsstaatsmission Eulex noch die Kfor-Truppen im Land –, sperrt sich das Europa der EU, den Visazwang für die Kosovaren aufzuheben.
Win-Win-Situation
Der Deckel Visazwang führte zum Überdruck, Zehntausende machten sich auf den illegalen Weg nach Westeuropa. Geschäftstüchtige Schlepper taten ein Übriges, die Menschen mit falschen Informationen auf den Weg zu locken. Die Welle ist zwar etwas abgeebbt, doch das Problem bleibt.
Die Institutionen der internationalen Gemeinschaft im Kosovo haben es nicht vermocht, gemeinsam mit der Regierung eine Entwicklungstrategie für das Land zu entwerfen. Dabei gibt es ernsthafte Vorschläge. Warum sollten die sprachbegabten kosovarischen Studenten nicht schon an den Universitäten im Kosovo in Studiengänge geführt werden, die dem Bedarf unserer Wirtschaft entsprechen? Warum nicht Fachkräfte dort ausbilden und ihnen damit eine realistische Perspektive für die Einwanderung in die Staaten Westeuropas zu geben?
Solche Modelle könnten auch in Bosnien oder in den anderen Staaten des Westbalkan durchgesetzt werden. Sie bildeten ein Ventil, das viel Energie freisetzen könnte. Das wäre eine Win-win-Situation.
Wenn man über ein Einwanderungsgesetz jetzt ernsthaft diskutieren will, dann sollten diese Vorschläge, die in der GIZ und anderen Institutionen Unterstützung finden, endlich ernst genommen werden. Zweifellos, die Einwanderung braucht einen geordneten Rahmen.
Im Fall der Roma sind zwar in der EU Konventionen verabschiedet worden, an der Lage dieser Bevölkerungsgruppe jedoch hat sich wenig geändert. Es geht nicht an, einfach Gelder für die Roma, für deren Ausbildung, Qualifikation und Arbeitsbeschaffung, an die Balkanländer zu übergeben, die dann schließlich von korrupten Bürokratien aufgesogen werden. Man muss von Seiten der EU und Deutschlands darauf achten, dass diese Gelder für diese Zwecke verwendet werden. Ob durch eine neue Agentur oder über Projekte von NGOs – die bisherige Praxis jedenfalls führte nicht zum Erfolg.
Zäune zu bauen, wie es jetzt die Ungarn tun, und Aggressionen zu schüren, wie dies auch manche Politiker bei uns nicht unterlassen können, ist nicht nur abscheulich und menschenunwürdig. Diese Politik führt in die Irre und löst keines der Probleme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin