Debatte Christian Wulff: Schaum auf der Welle
Christian Wulff ist der moderne Nachfahre von Ludwig XVI., dem Erfinder der Guillotine. Wulff sollte nicht geköpft, aber suspendiert werden - von sich selbst.
D ie schlimmste Strafe hebt niemand auf. Lebenslang inhaftiert zu sein in sich selbst. Es ist wohl besser, wir sehen uns eine Weile nicht!, sagen aufgeklärte Menschen zueinander. Warum immer nur zu anderen?
Ich wäre dafür, Christian Wulff eine Zeit lang davon zu suspendieren, Christian Wulff sein zu müssen. Wie mag er morgens aufwachen? Mit einem "Nicht du, nicht schon wieder du!"? Dass auch diese Kolumne nicht ohne den Namen Wulff auskommt, ist ein Zeichen. Und zwar ein ungutes.
Es ist Jahresanfang, Freiraum also für ein wenig Grundsätzlichkeit. "Der Einzelne ist nur Schaum auf der Welle, Größe purer Zufall." Es handelt sich bei diesem Zitat nicht um eine Analyse der Stellung des Bundespräsidenten im Allgemeinwesen. Zu betrachten ist vielmehr die Welle sowie die Position des Einzelnen in ihr.
Der Medien-Tsunami
Die Welle, das sieht jeder, ist das, was sich gerade über Wulff entlädt. Recht tsunamiförmig, die Realwoge kam damals auch über Weihnachten. Die gegenwärtige ist eine Bewegungsform der Medien. Ihre Selbststeuerung ist begrenzt, um nicht zu sagen: sie ist nach dem Anfangsimpuls eigentlich nicht mehr vorhanden; der Rest ist Eigendynamik, ist Physik.
KERSTIN DECKER ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Im Jahr 2010 erschien ihr neues Buch "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich" (Propyläen Verlag).
Kurz: Welle ist Welle. Um uns herum geht die Welt unter, oder zumindest der Euro, wir aber reden über einen Bundespräsidenten, der - mit einigen Abstrichen und bei absoluter Windstille betrachtet - nichts gemacht hat.
Die Art, wie die Wellen der öffentlich Meinenden am Ufer niederbrechen, hat Thomas Mann im "Tod in Venedig" beschrieben: Sie senken, Stieren gleich, die Hörner und rennen mit Brüllen gegen das Ufer an. Alle gegen Christian. Das ist schon ein wenig, wie guillotiniert zu werden.
Am Berliner Ensemble begann Claus Peymann das Jahr mit einem Revolutionsstück, von genau dem Autor, der den schönen Satz über die Stellung der Journalisten und aller Übrigen im Universum gesagt hat: "Der Einzelne ist nur Schaum auf der Welle, Größe purer Zufall." Georg Büchner hat diese Überlegung an seine Freundin gesandt, während er an "Dantons Tod" schrieb. Danton war gewissermaßen der Hauptrevolutionär, und dass die Revolution - was für eine Welle! - ihre Kinder frisst, wissen wir auch seit Büchner.
Neben mir saß Klaus Maria Brandauer. Wahrscheinlich wollte er vollkommen unerkannt ins Theater; er trug noch im Zuschauerraum einen dicken schwarzen Wollschal und eine Pudelmütze, dazu eine Siebziger-Jahre-Brille der aberwitzigsten Form. Die ganze Erscheinung fiel unters Vermummungsverbot, niemand konnte mehr auffallen als er. Wahrscheinlich wollte Brandauer nachsehen, wie man seinen Danton noch spielen konnte. Denn vor über zwanzig Jahren war er Danton, ein großartiger, in einem großartigen gesamteuropäischen Fernsehfilm.
Durch Gewohnheit gestützte Illusion
Die Bühne hob in ihren aberwitzigen Winkeln und Perspektiven die Regeln der Schwerkraft auf und setzte einfach neue. Das bestärkte das schwankende Jahresanfangsgefühl, dass der feste Boden unter unseren Füßen vielleicht nur eine durch Gewohnheit gestützte Illusion ist.
Und wie schnell lassen sich Folgerichtigkeiten durch neue Folgerichtigkeiten ersetzen: "Die Schritte der Menschen sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen. Ist es denn nicht verständlich, dass zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?" So klingt die Introduktion zur großen Massenmörderei, zur Revolution als dem blutigen Reinigungsbad des Humanen, das vor Danton, dem größten aller Revolutionäre, nicht haltmachen würde.
Und Robespierre, der zweitgrößte Revolutionär, der Tugendterrorist, stimmt zu: "Aber nichts soll mich aufhalten, und sollte auch Dantons Gefahr die meinige werden." Das sind Wellenlogiken, und was am meisten erschreckt, sind die Gesetzmäßigkeit ihrer Wiederkehr (in der russischen Revolution!) sowie die Zeiträume, bis solche Meere wieder zur Ruhe gelangen.
Als der große Terror begann, war die Französische Revolution immerhin schon drei Jahre alt. Die arabische Revolution feierte soeben ihren ersten Geburtstag, und die Islamisten sind gewiss nicht ihr letztes Wort. Aber niemand kann absehen, wo sie einmal ihr Bett finden wird.
Und was, bitte, mag man fragen, hat das alles mit Wulff zu tun? In dem Augenblick, als Ludwig XVI. die von ihm miterfundene Guillotine ausprobieren musste, begann die Kopflosigkeit an den Spitzen der europäischen Nationen. Insofern ist der Bundespräsident ein moderner Nachfahre Ludwigs, ein Kompromiss, König und doch nicht König. Es gab gewiss miserablere Könige als Christian Wulff, und sie wurden dennoch geschont - als wie immer auch unvollkommene Inkarnationen einer Vollkommenheit. In ihnen ehrt man mehr als sie selbst, nicht zuletzt das Amt.
Danton hat ein schönes Haus
"Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau. Danton war arm wie ihr. Woher hat er das alles? Nieder mit Danton!" Die öffentlich Meinenden klingen dieser Tage oft wie das wankelmütige Volk aus Büchners Stück. Er selbst besitze keine Freunde, die ihm mal eben 500.000 Euro leihen könnten, klagte ein nicht ganz unbekannter Journalist im Deutschlandfunk. Und hatte die öffentlich-rechtliche Zwiesprache Wulffs mit Deppendorf und Schausten nicht Züge eines Tribunals?
Brandauers Beifall am Ende von "Dantons Tod" war leise und tief nachdenklich. Vielleicht weil er keinen Danton gesehen hatte, nichts von diesem geistundgenusssüchtigen Revolutionsvieh, das er selbst war, nur einen jungen Recken mit hilflos schicksalsoffenen Armen.
Es gibt - Peymann ist schuld - keinen richtigen Danton mehr, es gibt auch - Angela Merkel ist wohl schuld - keinen richtigen Bundespräsidenten mehr. Denn der durfte sie nicht überragen. Und nun lassen wir ihn seine Mittelmäßigkeit büßen. Und die Medien genießen es, nicht nur Wellen zu machen, sondern Welle zu sein, absolut in ihrem Überschwang. In ihrer Wucht, Könige zu machen, Könige zu stürzen? Auch die Mediokratie ist eine Gefährdung der Demokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“