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Debatte Care-ArbeitUm das Kümmern kümmern

Fixiert auf Erwerbsarbeit vergessen wir, dass die Hinwendung zu anderen ebenso zum Menschsein gehört wie der Job.

Care meint die Ansprechbarkeit für und Hinwendung zu den Bedürfnissen lebendiger Wesen Foto: dpa

Notstand allerorten: Ein eklatanter Mangel an Personal in Kitas, Pflegeheimen, Krankenhäusern. Notstand alltäglich auch im Privaten: In Großstädten kämpfen werdende Eltern Jahre vor der Zeit um einen Kindergartenplatz. Wenn sie einen ergattert haben, übersteigen Krankheiten des Kindes schnell die gesetzlich ermöglichten Krankheitstage. Und wenn die Mutter, sehr selten der Vater, nach Jahren Teilzeit im Job auf ihren Rentenbescheid schaut, sieht sie der Armut ins Auge.

Das sind Symptome einer veritablen Care-Krise, einer Krise des Sichkümmerns. Dabei hängt das Kleine der Alltagserfahrungen mit dem Großen der historisch gewachsenen sozialen Struktur zusammen. Überforderung bei der sogenannten Vereinbarkeit und der schick klingenden, in Wahrheit aber erschöpfenden Work-Life-Balance ist Ausdruck eines strukturellen Problems: Die kapitalistische Wirtschaftsweise lebt von Grundlagen, die sie selbst nicht erzeugen kann und bislang nicht mal angemessen wertschätzt, geschweige denn bezahlt.

Wer von Arbeit als Produktion, Beruf und Geldverdienen sprechen will, kann von Care als Kümmern und Reproduktion also nicht schweigen.

Der Erwerbsarbeit nachzugehen ist nur möglich, weil etwas anderes fortlaufend geschieht: Arbeitskraft, die auf dem Arbeitsmarkt verkauft wird, muss täglich reproduziert werden. Es sind so banale wie wirkungsvolle Dinge, die dazu nötig sind: einkaufen, putzen, schlafen, gesund bleiben, emotional stabil sein, Müll runterbringen, Windeln wechseln, kochen, Händchen halten, Elternabend, Brote schmieren, Katzenfutter kaufen… Eine schier unendliche Fülle alltäglicher Kleinigkeiten, die nie wirklich abgearbeitet sind.

Paula-Irene Villa

Paula-Irene Villa ist Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München undSprecherin des Bayerischen Forschungsverbundes „ForGender­Care – Gender und Care in Bayern

Ökonomisierung aller Lebensbereiche

Ohne Care geht nichts. Nicht mal leben. Care umfasst alle Tätigkeiten der Betreuung und Pflege des Lebendigen, egal ob bezahlt oder nicht. Care meint die Ansprechbarkeit für und Hinwendung zu den Bedürfnissen lebendiger Wesen, ob Pflanze, Kind, kranker Nachbar, man selbst, die alternden Eltern oder Hund, Katze, Maus. Care ist Quelle von Lebenssinn, von Anerkennung und Glück.

Da wir jedoch Erwerbsarbeit für die einzige Form der gesellschaftlichen Inklusion und individuellen Selbstständigkeit halten, gerät dies unter die Räder der Ökonomisierung aller Lebensbereiche.

Und doch: Care ist auch Arbeit. Hausarbeit, Körperpflege, die Pflege des alten Vaters, des kranken Kindes, der Wohnung: Das alles benötigt planbare und effizient verrichtete Arbeit. Und so ist Care durchaus professionalisier- und bezahlbar. In Teilen jedenfalls. Erzieher, Putzfrauen und Essenszustellerinnen sind dafür Beispiele. Nicht zufällig sprechen wir hierbei von „haushaltsnahen Dienstleistungen“. Denn historisch sind die einschlägigen Berufe als Verlängerung der Hausfrau entstanden.

Gender Care Gap

Als solche sind sie in derselben Paradoxie wie alles Weibliche: gesellschaftlich in höchsten Sonntagsredentönen romantisiert und zugleich alltäglich ausgebeutet. In Care-Berufen herrschen skandalös schlechte Arbeitsbedingungen, sie sind weit unterbezahlt.

Seriösen Berechnungen zufolge, etwa vom DIW, gibt es auch in Deutschland einen strukturellen Gender Care Gap. Das heißt, dass aus Differenzen in Minuten pro Tag, die Männer und Frauen für Care aufwenden, Differenzen in Einkommen, Sozialversicherung, Renten werden. Das ist das eine Problem. Es ist gesellschaftlich zu lösen und nicht den einzelnen Personen, Frauen, Familien überlassen, ihre Work-Life-Balance zu managen.

Derzeit, das ist die gute Nachricht, formieren sich zahlreiche Initiativen und Netzwerke, die sich der sozialpolitischen, arbeitsrechtlichen und qualitätsbezogenen Frage von Care annehmen. Das wird hierzulande höchste Zeit, international sind bereits seit Langem Organisationen von Putzfrauen, Haushälterinnen, Kindermädchen und weiteren Dienstleisterinnen aktiv.

Das zweite Problem wird derzeit noch wenig beachtet: Care-Tätigkeiten lassen sich nur bedingt professionalisieren. Und wir sollten dies auch nur bedingt wollen. Denn Bedürfnisse von und Beziehungen zwischen lebendigen Wesen haben einen nicht zu beherrschenden Eigensinn. Lebendigkeit fügt sich nicht den Formen und Normen der strategischen Verfügbarkeit. Das weinende Kind in der Kita-Garderobe, der einsame alte Nachbar, der noch ein bisschen reden will, die junge Patientin, die sich sorgt, der Vater mit dem Kinderwagen, der die Treppe zur U-Bahn nicht runterkommt. Sich diesen Bedürfnissen zuzuwenden wirft keinen Mehrwert ab – und ist doch gesellschaftlich so notwendig wie individuell sinnstiftend.

Eine Gesellschaft, die Zuwendung an andere und von anderen nicht ermöglicht, ist unmenschlich

Care ist auch Lust

Ansprechbar zu sein für die Bedürfnisse des Lebendigen ist lebensnotwendig, lästig, aber auch lustvoll. Care ist nicht nur belastende Arbeit, die es lediglich angemessen zu bezahlen gilt – auch wenn dies ein Riesenfortschritt und bitter nötig wäre. Care ist nicht nur Privat- und Intimsache, um die sich jede und jeder individuell kümmern muss, Care ist nicht nur ein Vereinbarkeitsproblem, Care ist auch nicht nur Ausbeutung anderer Menschen zur Herstellung der eigenen Autonomie.

Care ist auch – und davon sprechen wir bislang viel zu wenig – Freude, Sinn, Lust, es ist Anerkennung und Realisierung der sozialen Natur unserer selbst; dass wir nicht sein können und wollen ohne die Zuwendung von anderen und an andere. Eine Gesellschaft, die dies nicht ermöglicht, ist unmenschlich.

Es ist daher notwendig, dass Menschen beides realisieren können: Streben nach Autonomie und angewiesen sein auf andere, die sich kümmern und um die wir uns kümmern. Jenseits von Burn-out und individueller Überforderung bildet sich derzeit auch Solidarität: von den organisierten Kämpfen der National Domestic Workers Alliance in den USA über Forderungen für eine menschlichere Sozialpolitik, vom Care Revolution Network in Deutschland bis zu den kommunalen Mehr-Generationen-Wohnprojekten überall auf der Welt. Wir können uns um das Kümmern kümmern!

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6 Kommentare

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  • Frauen und Rente?

    Gegen das Emanzipationsmärchen der Frau in der BRD!

    Die bürgerliche Emanzipation und Gleichstellung der Frau steht noch bevor!

    Wann kommt es zur bürgerlichen Emanzipation und gesellschaftspolitischen Gleichstellung der Frau im 21. Jahrhundert in EU-Europa und damit aber auch in der Bundesrepublik Deutschland?

  • Ich würde mich freuen, wenn Sie bei diesem Thema den Equal Care Day erwähnen würden, der von Almut Schnerring und Sascha Verlan ins Leben gerufen wurde. equalcareday.de/

  • DANKE!

  • Ach ja, bitte, kümmern wir uns endlich um das Kümmern! Tun wir es bitte nicht mehr nur als Notnagel der völlig zu Recht Abgehängten ab! Kümmern ist schließlich eine echte Kunst. Man kann viel falsch machen dabei, aber auch sehr vieles sehr richtig. Genau wie in der „großen“ Politik oder im Umweltschutz, von einer ominösen „Wirtschaft“ ganz zu schweigen.

    So arrogant, jedenfalls, dass er die Grundlage des eigenen (Über-)Lebens demonstrativ abwerten muss, sollte kein Mensch sein müssen, der etwas auf sich hält. So etwas kommt einfach nicht gut in einer Menschenwelt. Da kommt es viel besser, Grenzen zu setzen. Eigne und fremde. Und dann fair zu (ver-)handeln.

    Der Grad zwischen Lust und Last ist schließlich ungeheuer schmal. Auch in der Fürsorge. Eben noch Spaß, schon Überforderung. Wenn nicht immer rechtzeitig wieder ein Ich wird aus einem Wir, kann man nicht überleben. Fangen wir also mit der Mehrwertfrage an. Was darf, was soll, was muss, was kann?

    Sich kümmern, und ich meine hier: sich WIRKLICH kümmern, wirft durchaus einen Mehrwert ab. Allerdings einen, der nicht übertragbar ist auf einen, der sich nicht gekümmert hat. Auf eine Bank zum Beispiel oder einen Dieb. Der Mehrwert ist „nur“ ein Gefühl, und das kann man nur selber haben.

    Der Mehrwert des Kümmerns entzieht sich der Kapitalisierung durch das Kapital. Und der Entfremdung ist er auch nicht zugänglich. Vermutlich wird er grade deshalb nicht vom Kapital beworben für viel Geld. Auf die Idee, dass Kümmern einen Mehrwert bringt, muss man schon von alleine kommen. Und selber kommen da nur Leute drauf, die sich a) etwas zutrauen und b) annähernd ehrlich reflektieren.

    Die Wenigsten also bisher, vermute ich. Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Der Mensch an sich hat schon ganz anderes gelernt. Warum, zum Henker, sollte der nicht begreifen, dass Frauen nicht bessere Männer und Männer nicht unbedingt Alphatiere sein bzw. bleiben müssen?

    Geld ist nicht alle. Nur leider schon viel zu viel.

  • „Und wenn die Mutter, sehr selten der Vater, nach Jahren Teilzeit im Job auf ihren Rentenbescheid schaut, sieht sie der Armut ins Auge.“

    Würden vor allem die Frauen (und hündischen Männer) ihre persönliche Unterwerfung unter die Kapitalinteressen beenden und die asozialen Vermögensverhältnisse beenden, dann könnte man diesen Zustand nachhaltig beenden, ohne dabei sogleich den geliebten Kapitalismus treudeutscher Prägung über Bord zu werfen.

    Vor kurzem die Medienmeldung: Frau von Klatten, geborene Quandt-Erbin und ihr Bruder Stefan Quandt erwarten zusammengerechnet eine Jahres-Dividende (nur) vom BMW Konzern in Höhe von etwas mehr als 1,1 Milliarden Euro. Selbst wenn davon eine Steuer fällig würde, auch diese Steuer wäre ein Leistungsergebnis von insgesamt rund 80.000 BMW-Mitarbeitern und einer Vielzahl von billigen Arbeitskräften der Rohstofflieferanten.

    Es ist doch heute im Internet und Kommunikationszeitalter allgemein bekannt: Nur in der Bundesrepubli8k verfügen weniger als 10 Prozent der Bevölkerung, die oberen so9zialen Schichten und Klassen, über mehr als 70 Prozent aller Kapital und Privatvermögen. Hier müsste man ansetzen für eine auskömmliche Umverteilung der persönlich leistungslosen Kapital und Privatvermögen der Finanz- und Monopolbourgeoisie, nach unten. Damit lassen sich auch die Mini-Arbeitslöhne und Mini-Armutsrenten für die große Mehrheit der weiblichen Lohnarmen und Rentenarmen nachhaltig beseitigen.

    Aber dafür müssten auch noch die Frauen ihre Emanzipation einleiten und ihre Gleichberechtigung in der bürgerlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in Deutschland erkämpfen. Damit noch heute und sofort anfangen!

  • Was bei dieser Diskussion meist verschwiegen wird ist doch eine ganz zentrale Ursache des Problems: die steigende Erwerbsquote der Frau. Als die Frau noch Hausfrau war, war 50 Prozent der Familienarbeitszeit nicht-monetarisierte Care-Arbeits-Zeit. Care Arbeit, die keinen direkten Arbeitsmarktbezug hatte und daher (relativ) wenig den kapitalistischen Zwängen unterlag. Dahin müssen wir zurück. Frauen also wieder an den Herd? Natürlich nicht! Aber alle müssen weniger (Erwerbs)arbeiten, mindestens 50 Prozent. Und zuallererst die Männer.