Debatte Antisemitismus: Progressive Vereinfacher
Muslime sind nicht „die Juden von heute“. Muslime sind „die Muslime von heute“. Am Judenhass sind nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse schuld.
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A lle reden über Antisemitismus – und das nicht erst seit der jüngsten Aufregung um die Vorfälle an deutschen Schulen, sondern seit Jahrzehnten. Doch mit welchem Erfolg? Nach wie vor sind rund 20 Prozent der Bevölkerung antisemitisch. Juden fühlen sich in Deutschland immer seltener sicher. Seien wir ehrlich: Es liegt auch daran, dass vor allem wir, die wir uns als die Progressiven der Gesellschaft empfinden, über dieses Phänomen reden. Viel zu viele unserer Grundannahmen über Antisemitismus sind moralisch richtig, aber dennoch untauglich und unwirksam für Antisemitismusbekämpfung.
Unser erster Reflex ist stets, die gesellschaftlichen Verhältnisse und „das System“ für Antisemitismus verantwortlich zu machen. Gäbe es nur weniger Armut und Diskriminierung, mehr Bildung, Aufklärung und Gerechtigkeit, dann würde alsbald auch der Antisemitismus der Vergangenheit angehören. Langfristige pädagogische Konzepte sind gefragt und langer Atem. Sicher ist all das wichtig und richtig. Doch sollen die traumatisierten Opfer, in diesem Fall die jüdischen Schulkinder, solange warten, bis solche Konzepte in ein paar Jahren möglicherweise Erfolge zeitigen? Wo sind konkrete Hilfen für diese Kinder, die Schulzeit hier und jetzt zu überstehen?
Um Antisemitismus zu bekämpfen, müssen wir uns eingestehen, dass er auch in der progressiven Gesellschaftskritik, etwa beim Antikolonialismus und Antikapitalismus weit verbreitet ist. Nicht umsonst hat der linke Denker Moishe Postone auf Kontinuitäten zwischen der obsessiven Finanzkapitalkritik und Antisemitismus hingewiesen. Die Projektion des Bösen ausschließlich auf das unproduktive und zugleich abstrakte Finanzkapital liege vielen antisemitischen Klischees zugrunde. Ohne die Anerkennung dieses Zusammenspiels können wir nicht wirksam gegen Antisemitismus intervenieren.
Erst vor zwei Jahren hat beispielsweise ein Amtsgericht in Brandenburg eine Karikatur über die angeblich die Welt kontrollierende Rothschild-Familie als „lediglich Kritik an Finanzmacht“ abgetan. Wenn schon Richter die offensichtlichen Parallelen nicht erkennen, wie soll es überforderten Lehrern mit ihrem „systemkritischen“ Schülern gehen?
Es geht um Angriffe auf Juden
Die progressive Denkweise betont, dass gesellschaftliche Machtstrukturen sich auf das Verhalten des Einzelnen auswirken. Das ist ihre Stärke. Doch wo überspannen wir diese systemischen Erklärungsmuster und ignorieren die individuelle Verantwortung oder die des unmittelbares Umfelds, der Eltern oder der Familien? Dies wird besonders deutlich, wenn es um Antisemitismus aus „migrantischen Milieus“ geht. Bei jedem antisemitischen Angriff gibt es immer wieder Stimmen, die vor der Gefahr antiislamischer Diskriminierungwarnen. Diese berechtigten Sorgen dürfen aber nicht davon ablenken, worum es bei konkreten Anlässen geht – um verbale oder tätliche Angriffe auf Juden!
Allzu gern reduzieren wir die gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf die ungleiche Beziehung „weiße Mehrheit“ versus „migrantische Minderheit“ – eine ebenso bequeme wie monokausale Vereinfachung. Natürlich sind Minderheiten, und heutzutage gerade Muslime, selbst Objekte einer offenen und strukturellen Diskriminierung. Allerdings gibt es selbstverständlich auch Machtstrukturen zwischen ihnen und anderen Minderheiten (etwa gegenüber Juden oder Schwarzen) und sogar innerhalb der Gruppen selbst (etwa gegenüber liberalen oder alevitischen Muslimen). Eine emanzipatorische Politik muss diese Binnenminderheiten stärken.
Schließlich müssen wir auch noch darüber reden, inwiefern Erinnerungspolitik und -pädagogik für Antisemitismusbekämpfung ausreicht. Hier sehe ich zwei Gefahren. Erstens: Judenfeindschaft und jüdisches Leben wird ausgelagert in die Vergangenheit. Zweitens wird die Geschichte auf falsche Weise universalisiert. Die häufige Unterstellung: Die Lehre aus dem Holocaust sei, dass keiner sich mehr diskriminiert fühlen dürfe. Mit diesem Rückgriff versuchen wir verzweifelt, Zugänge zu neuen Generationen und Menschen mit Migrationshintergrund zu finden. Doch die Hauptlehre des Holocausts ist nicht, dass Minderheiten nicht diskriminiert werden dürfen – das ist die Folge der Menschen- und Bürgerrechte!
Die Lehre aus dem Holocaust ist, dass Menschen nicht wegen ihrer Herkunft massenhaft vernichtet werden dürfen. Bei allem Respekt für die wichtige Formel „Wehret den Anfängen“: Jede Diskriminierung kann der Anfang sein, aber nicht jeder Anfang ist der Holocaust. Zugespitzt: Nicht jeder von uns, der eine Diskriminierung erfährt, ist ein potenzielles Holocaustopfer. Der Wunsch, die Lehren aus dem Holocaust zu universalisieren, darf nicht zu einer Gemengelage aus Befindlichkeiten und Betroffenheiten allerlei Natur führen.
Glaubwürdigkeit getrennt erarbeiten
Was folgt aus diesen Feststellungen? Am besten fahren wir mit einer Kombination aus Maß und Haltung. Wir müssen den Kampf gegen Diskriminierung, gegen Armut und strukturelle Benachteiligung entschlossen führen. Nur wer für die Rechte aller Minderheiten eintritt, Dialog sucht und etwa Moslemfeindlichkeit bekämpft, wird die Glaubwürdigkeit für die Bekämpfung des Antisemitismus mitbringen. Aber diese Glaubwürdigkeit müssen wir uns getrennt erarbeiten: Nicht jedes Eintreten gegen Moslemfeindlichkeit muss mit Verweisen auf Antisemitismus unter Migranten garniert werden. Nicht jeder Hinweis auf das Antisemitismus-Problem unter Migranten muss mit Verweis auf deren Diskriminierungen durch die Mehrheitsgesellschaft relativiert werden.
Auch im Zeitalter des Multikulturalismus sollen wir uns vor zu starken Universalisierungen der Wirkungen des Holocausts hüten. Ein zweiter Holocaust steht nicht vor der Tür. Weder für Juden noch für Muslime. Muslime sind nicht „die Juden von heute“. Muslime sind „Muslime von heute“. Und das ist angesichts der antimuslimischen Ressentiments schlimm genug, aber mit dem Völkermord an den Juden eben nicht vergleichbar.
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