Das andere Ende der Kanalisation: Berlins Großgrundbesitz
Vor 150 Jahren wurden die Berliner Stadtgüter gegründet. 17.000 Hektar Land vor den Toren besitzt die Hauptstadt bis heute. Was macht man bloß damit?
D ie beste Aussicht auf das Naturschutzgebiet „Schönerlinder Teiche“ gibt es von der Holzbrücke. Der Blick geht auf eine halboffene Savannenlandschaft, Bäume und Sträucher lose verstreut, Blumen blühen, aber auch offene Flächen und Wasserstellen sind zu sehen. „Da hinten sind die Koniks“, sagt Katrin Stary. Koniks sind halbwilde Pferde. Dann hält sie Ausschau nach den Wasserbüffeln, doch die haben sich versteckt. Unterhalb der Aussichtsbrücke entdeckt sie schließlich drei Fäkalienhaufen. Sie lächelt: „Vor Kurzem waren sie noch hier.“
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Katrin Stary ist Geschäftsführerin der Berliner Stadtgüter, die in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feiern. An die 17.000 Hektar besitzt die dem Land Berlin gehörende GmbH auf Brandenburger Gebiet, das ist fast 50-mal so viel wie das Tempelhofer Feld.
Nur wenige Flächen sind wie die hinter dem nördlichen Stadtrand gelegenen Schönerlinder Teiche Naturschutzgebiete. Auf dem größten Teil der Güter wird auf 13.700 Hektar Landwirtschaft betrieben. Seit der Umstrukturierung der Gesellschaft 2007 werden die Flächen von Pächterinnen und Pächtern bestellt. „Würden wir das noch selber machen“, sagt Stary, „wären wir der größte Landwirtschaftsbetrieb Deutschlands.“
Auch wo auf dem halboffenen Land des Naturschutzgebietes Schönerlinder Teiche heute Wasserbüffel ihren Kot hinterlassen, wurden bis vor noch nicht allzu langer Zeit menschliche Fäkalien entsorgt. Auf die Rieselfelder in Schönerlinde wurden seit 1908 vom Pumpwerk in der Weddinger Seestraße die Abwässer der Berliner Kanalisation gepumpt. Durch die Verrieselung wurde das Abwasser geklärt und konnte ins Grundwasser sickern. Der Klärschlamm selbst diente als Dünger für die Landwirtschaft auf den Stadtgütern. In Schönerlinde wurden in den Teichen zudem auch Karpfen gezüchtet und Enten gehalten.
Berlin versorgt sein Umland mit menschlichen Hinterlassenschaften, das Umland versorgt Berlin mit Obst, Gemüse und zu Weihnachten mit Karpfen. So ging das in Schönerlinde fast 80 Jahre lang. Erst als 1985 unweit der Teiche ein Klärwerk gebaut wurde, wurde die Verrieselung eingestellt. Die Teiche fielen in einen Dornröschenschlaf, es kamen Rohrammer, Teichrohrsänger, Braunkehlchen und Zwergtaucher.
Mit der S-Bahn ins Naturschutzgebiet
Als die verbuschte Teichlandschaft nach der Wende wiederentdeckt wurde, kamen auch die Konikpferde und Wasserbüffel. Sie sollen das Land beweiden und damit die Artenvielfalt sichern. Und natürlich die stadtmüden Berlinerinnen und Berliner anziehen. Der Aussichtsturm gehört zu einem vier Kilometer langen Lehrpfad, der am S-Bahnhof Mühlenbeck-Mönchmühle beginnt.
„Es ist das einzige Naturschutzgebiet in Deutschland mit einem S-Bahn-Anschluss“, sagt Katrin Stary. Sie ist seit 2015 Chefin der Stadtgüter. Seitdem die Landwirtschaftsflächen verpachtet sind, ist sie zwar nicht mehr Deutschlands größte Bäuerin, aber doch Berlins Großgrundbesitzerin Nummer eins. Wie ist es dazu gekommen?
Der Blick zurück kommt nicht aus ohne beißenden Gestank. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein landete das Abwasser aus den Berliner Haushalten direkt in den Rinnsteinen der Straßen. Abgeleitet wurde es direkt in die Spree. Typhus und andere Krankheiten breiteten sich immer wieder in der Stadt aus.
Das rief Rudolf Virchow auf den Plan. Der Pathologe an der Charité war 1867 vom Berliner Magistrat damit beauftragt worden, Pläne für eine Reform der Wasserversorgung zu entwickeln. Konkret ging es darum, ob das bisherige System der Abfuhr von Fäkalien verbessert oder der Neubau einer unterirdischen Kanalisation vorangetrieben werden sollte. Gegen Letzteres gab es viele Vorbehalte. Immer wieder war von einem „Reich der Ratten“ die Rede, die Gefahr einer neuen Pestepidemie wurde beschworen.
Mit ins Boot holte Virchow den Ingenieur James Hobrecht. Der hatte mit dem nach ihm benannten Hobrechtplan bereits die Matrix für das Wachstum des überirdischen Berlin vorgelegt. Nun war er auch für die unterirdische Stadt zuständig. Denn Virchow und Hobrecht plädierten bald für ein ausgeklügeltes Kanalisationssystem. Aufgeteilt auf zwölf sogenannte Radialsysteme sollte die Kanalisation werden, die Rohre sollten die Abwasser an den jeweils tiefsten Punkt bringen und von dort auf die Rieselfelder gepumpt werden.
„Bald schon war Berlin die sauberste Stadt Europas“, sagt Katrin Stary und steuert ihr Auto von Schönerlinde Richtung Hobrechtsfelde. „In London wurden die Fäkalien bis zum Bau der ersten Klärwerke noch ungefiltert in die Themse geleitet.“
Genossenschaftsdorf der Ideen
„Kommunikation ist das Wichtigste“, sagt Antonia Gerke und nippt an ihrem Kaffee. „Wenn man miteinander redet, entstehen die besten Ideen.“ Gerke sitzt im Café „James“ in Hobrechtsfelde, benannt nach James Hobrecht, der hier allgegenwärtig ist. Sogar ein Relief am Eingang zum Gut an der Dorfstraße zeigt sein Konterfei.
Doch das letzte der zwölf ehemaligen Stadtgüter, 1908 gegründet nach Hobrechts Tod, ist kein Museum, sondern ein überraschend lebendiger Ort. Seit 2010 gehört das 250-Seelen-Dorf der Berliner Genossenschaft Bremer Höhe, die die 25 Vierfamilienhäuser nach und nach saniert hat. Nicht nur im James kann man sich seitdem treffen, sondern auch im Café des Besucherzentrums im ehemaligen Kornspeicher des Guts. Und natürlich in der „Pferdekultur“ von Antonia Gerke.
„Als die Verrieselung in Hobrechtsfelde zu Ende war, wurde versucht, die Rieselfelder zu rekultivieren“, sagt die Schleswig-Holsteinerin, die 2011 nach Hobrechtsfelde kam und 2015 ihren Pferdehof gründete. „Bald hat man aber festgestellt, dass viele Bäume auf den Flächen nicht anwuchsen.“ Ein Hybrid aus Wald und Offenland ist seitdem im 850 Hektar großen Hobrechtswald entstanden. Für das offene Land sorgen 80 Koniks. Zu ihnen gesellen sich noch 135 Rinder, vorwiegend Galloways.
In Hobrechtsfelde sind viele an der Gestaltung der ehemaligen Rieselfeldlandschaft beteiligt. Der Förderverein des Naturparks Barnim hatte Fördermittel für das Projekt beantragt und betreibt inzwischen auch das Besucherzentrum. Die Berliner Forsten sind für den Hobrechtswald verantwortlich und die extensive Beweidung der Flächen. Die Stadtgüter von Katrin Stary wiederum haben den Gutshof an die Agrar GmbH Crawinkel und die Pferdekultur von Antonia Gerke verpachtet.
Wo viel geredet wird, entstehen Ideen. Die jüngste von ihnen: Warum nicht auf dem Südhang unter dem ehemaligen Kornspeicher Wein anbauen?
Es gab auch Rückschläge. Die Berliner Stadtgüter mussten Flächen abgeben, an den Flughafen BER oder für den Neubau der Justizvollzugsanstalt Heidering in Großbeeren südlich von Berlin. Doch das ist nichts im Vergleich zu den Überlegungen der Nachwendezeit, die Berliner Besitzungen in Brandenburg meistbietend zu verscherbeln.
Auf 2,1 Milliarden Mark war der Wert damals geschätzt worden – als potentielles Bauland. Wäre es zur Privatisierung der Stadtgüterflächen gekommen, hätte sich das wachsende Berlin heute ins Umland hineingefressen. Ein Siedlungsbrei wie in Paris oder London wäre entstanden.
Der AnfangAm 6. März 1873 fassten die Berliner Stadtverordneten den Beschluss, ein Kanalisationssystem zu bauen. Die Abwässer der schnell wachsenden Metropole sollten im Berliner Umland verrieselt und über die landwirtschaftliche Nutzung dieser Rieselfelder zugleich die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Agrarprodukten verbessert werden. Ein revolutionäres Abwassersystem, das Berlin zu einer der saubersten Städte der Zeit machen sollte. Dieser Beschluss markiert die Geburtsstunde der Berliner Stadtgüter.
Das JubiläumZum Jubiläum gibt es eine Publikation sowie eine Onlineausstellung. Beides wird ab September auf der Seite der Stadtgüter (www.berlinerstadtgueter.de) veröffentlicht.
Weil der Komplettverkauf 1992 mit Hilfe eines Entwicklungskonzepts gestoppt wurde, ist die Stadtkante bis heute sichtbar geblieben. Rückblickend betrachtet war diese Entscheidung für die Siedlungsstruktur des Berliner Großraums ebenso weitsichtig wie der Bau der Kanalisation für die Krankheitsbekämpfung vor 150 Jahren.
Berlin darf zwar ins Umland wachsen, aber nur entlang der Verkehrsachsen. Zwischen den Zacken dieses „Siedlungssterns“ bleibt die Landschaft frei von Bebauung. Nicht ganz zu unrecht heißt es im Begleitbuch zur 150-jährigen Geschichte: „Die Stadtgüter halten Berlin den Rücken frei.“
Doch der Betrieb war in den neunziger Jahren defizitär. Von den Volkseigenen Gütern der DDR hatte das wiedervereinigte Berlin nicht nur die alten Besitzungen zurückbekommen, es erbte auch 34.000 Schweine, 25.000 Mastrinder, 10.000 Kühe, 5.600 Schafe. Hinzu kamen 4.000 Beschäftigte, von denen aber schon 1994 nur noch 700 übrig geblieben waren.
Bald war klar, dass Berlin das nicht kann: Bäuerin sein. Der große Schnitt kam 2001. Die Stadtgüter wurden zu einer Liegenschaftsgesellschaft umgewandelt, die landwirtschaftlichen Flächen sollten verpachtet werden. „Damit war die Hoffnung verbunden, großflächig auf Biolandwirtschaft umstellen zu können“, sagt Katrin Stary. Allein, es fand sich kein passender Bewerber. „Also wurden zwei Lose verpachtet, eines im Norden, eines im Süden.“
„Aus heutiger Sicht“, sagt die Stadtgüter-Chefin, „hätte man mehr Lose vergeben sollen.“ Die Chance einer auf Berliner Flächen betriebenen groß angelegten ökologischen Landwirtschaft ist vertan. „Zwar hatte der Pächter im Süden den Auftrag, zum Teil ökologisch zu wirtschaften“, sagt Stary, „durchgesetzt wurde das aber nie.“ Die Böden sollten stattdessen nach „guter fachlicher Praxis“ bewirtschaftet werden.
Ein nennenswerter Umstieg zwischendurch ist auch nicht möglich. Von den 13.700 Hektar landwirtschaftlicher Fläche sind 10.000 Hektar bis 2054 und 2056 verpachtet. Bleiben also nur kleine Umstiegsflächen. „2024 suchen wir für 300 Hektar einen neuen Pächter“, kündigt Katrin Stary an. Ob sie da auf Bio besteht, will sie aber nicht versprechen. „Was mache ich, wenn da ein nicht regional ansässiger Landwirt um die Ecke kommt und zertifiziert ist, und sich gleichzeitig ein regionaler Landwirt bewirbt, der ohne Zertifizierung nachhaltig wirtschaftet?“
Ausgleich am Stadtrand
Wer so viele Flächen hat wie die Stadtgüter, muss sich auch Fragen gefallen lassen. Nicht nur die nach biologischer Landwirtschaft, sondern auch warum nicht mehr Flächen für Naturschutz zur Verfügung stehen. Fragen wie diese stellt zum Beispiel der Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland. Die Antwort der Stadtgüter lautet dann: Machen wir doch. „Für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen bei Berliner Bauprojekten stellen wir als Stadtgüter Flächen zur Verfügung“, sagt Katrin Stary.
Für Andreas Faensen-Thiebes, Vorstandsmitglied des BUND Berlin, ist das nicht genug. „Oft sind Ausgleichsflächen weit weg vom Ort des eigentlichen Eingriffs“, sagt er. „Und dann verdienen die noch gut daran, weil der Investor die Flächen und die Maßnahme finanzieren muss.“
Es gibt allerdings auch Beispiele, die nach Ansicht des BUND funktionieren. In Lichterfelde-Süd wird ein großes Bauprojekt der Groth Gruppe auf dem ehemaligen US-Stützpunkt Parks Range Teile einer gewachsenen Weidelandschaft in Anspruch nehmen. Als Ausgleichsmaßnahme entsteht nun auf Brandenburger Gebiet die „neue Weidelandschaft Lichterfelde“. „Das Gute daran ist, dass die Brandenburger Fläche unmittelbar an der Stadtgrenze an die alte Fläche grenzt“, sagt Andreas Faensen-Thiebes.
Zu deren 150. Geburtstag wünscht sich der BUND-Mann noch einmal eine Neuausrichtung der Stadtgüter. „Sie sollten als landeseigene GmbH nicht mehr dem Finanzsenator unterstehen und Gewinn einbringen müssen“, überlegt er. „Wenn sie zur Umweltverwaltung gehören würde, könnten auf den Berliner Flächen in Brandenburg viel mehr Umweltschutzprojekte gemacht werden.“
Aber auch Andreas Faensen-Thiebes weiß, dass das Zukunftsmusik ist. Gerade weil der Baudruck im rasch wachsenden Berlin immer größer wird und immer weniger Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen auf dem Stadtgebiet stattfinden können, wächst der Druck auf die Flächen der Stadtgüter.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
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Die Zeiten, in denen auf den ehemaligen Rieselfeldern halboffene Savannenlandschaften wie in Schönerlinde oder Hobrechtsfelde entstanden, neigen sich dem Ende zu.
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