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Das Verdrängen in RusslandHintergrund des Grauens

Sechs Monate nach Kriegsbeginn gibt es ein seltsames Phänomen: Emigranten kehren langsam nach Russland zurück.

Moskau Mitte August 2022 – aus Starbucks wird Stars Coffee Foto: Maxim Shemetov/reuters

I n verschiedenen Medien habe ich folgendes gehört und gelesen: Viele Russen, die Anfang März überstürzt nach Georgien, Armenien und in die Türkei gefahren sind, kommen zurück.

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Einige haben kein Geld mehr, andere konnten an den neuen Orten keinen Job finden. Und diejenigen, die ausgereist waren, weil sie Angst vor einer Generalmobilmachung hatten, haben beschlossen, dass es in der Heimat wohl doch nicht so gefährlich ist.

Aus Riga sehe ich keine Rückkehrwelle von Russen, die hierher emigriert sind. Aber ich sehe etwas anderes. Viele fahren für eine bestimmte Zeit zurück nach Russland. Und das irritiert mich persönlich.

Eine Freundin von mir ist schon das zweite Mal in die Heimat gefahren und wiedergekommen: das erste Mal, um Sachen zu holen und ihre Mietwohnung aufzulösen. Das zweite Mal, um sich einen neuen Reisepass ausstellen zu lassen. Und nächsten Monat fährt sie wieder – um den fertigen Pass abzuholen und gleichzeitig mal wieder „in echt“ mit ihre Kollegen zusammenzuarbeiten.

Maria Bobyleva

ist Chef-Redakteurin beim Portal „Takie dela“ (Russland) und Autorin der Bücher „So sprechen wir. Verletzende Wörte und wie man sie vermeidet“ und „Poetik des Feminismus“ Seit März 2022 lebt sie in Riga (Lettland).

Duchesse statt Coca Cola

Eine andere Freundin will zurück nach Moskau fahren, um ihre Wohnung zu verkaufen. Dafür möchte sie dort aber einige Monate bleiben – um ihren Steuerwohnsitz in Russland zu behalten und keine exorbitanten Steuern für den Verkauf zahlen zu müssen.

Ich selber denke jetzt auch schon darüber nach, ob ich nicht mal fahren sollte. Ich bin genau zwischen zwei ziemlich heftigen Zahnbehandlungen weggefahren, und in Lettland bin ich ein Niemand, nicht krankenversichert, und Zahnärzte sind hier um ein Vielfaches teurer als in Russland.

Alle, die nach Russland fahren, sagen das Gleiche: dass sich fast nichts geändert hat. Die Leute chillen auf den Sommerterrassen, trinken Sekt, sonnen sich in den Parks. Ja, Ikea und H&M haben geschlossen, statt McDonald’s gibt es jetzt etwas, das „Lecker und Punkt“ heißt und statt Coca-Cola und Sprite trinkt man jetzt die russischen Limonaden-Klassiker „Buratino“ und „Duchesse“, aber im Großen und Ganzen habe sich das Leben nicht geändert. Kein Krieg, alles gut.

Und das ist das Unheimlichste. Der Anschein von Normalität vor dem Hintergrund dieses Grauens, das die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine anrichtet. Dieser langsame, unmerkliche Zusammenbruch von allem, was in Russland in den letzten dreißig Jahren aufgebaut worden ist. Und diese seltsame Möglichkeit, still und leise dorthin zurückzukehren, von wo wir mit solchem Horror abgereist sind.

Wenn in Russland jetzt eine Lebensmittelkrise beginnen, wenn der Kriegszustand verhängt würde, wenn die Menschen massenweise auf den Straßen festgenommen würden, wenn es Ausreisesperren gäbe – das wäre alles irgendwie logischer, oder? Verständlicher. Man könnte sich selbst leichter erklären, vor welchem Horror man geflohen ist.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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8 Kommentare

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  • Heißt das jetzt, dass die Sanktionen keine Wirkung zeigen?

    • @wollewatz:

      Nö, sie wirken. Wir haben es nur mit einem autoritären Staat zu tun, der so lange wie möglich die Fassade aufrecht erhält, um die eigene Bevölkerung in möglichst großer Bequemlichkeit zu wiegen. Aber genauso wie die Sowjetunion funktioniert Russland nicht besonders lange ohne westlichen Technologieimport. Alleine mit russischen Traktoren wird die kommende Ernte z.B. schwierig. Von der Logistik (Züge und LKW aus deutscher Produktion), Stromerzeugung (Siemensturbinen in fast allen Kraftwerken) und IT (Chipmangel war sowieso schon aber jetzt ist es nochmal deutlich schlimmer) ganz zu schweigen. Ich will nicht wissen wie groß die Anstrengungen im Hintergrund sind, um die Fassade aufrecht zu erhalten. www.globsec.org/ne...ns-against-russia/

      • @LesMankov:

        Und noch etwas: die Makroindikatoren - das verdeutlicht der Globsec-Bericht ja auch - sind nicht aussagekräftig.

        Denn die stehen und fallen mit der Außenhandelsbilanz. Durch den Wegfall der Exporte in die EU sieht die russische Außenhandelsbilanz aber *auf dem Papier* so positiv aus wie seit langem nicht mehr, und das schönt die abgeleiteten Wirtschaftsindikatoren, so dass die Auswirkungen auf die *reale* Wirtschaft, Produktivität etc verdeckt werden: nach außen hui, von innen pfui.



        Diejenigen Wirtschaftsdaten, die einen unmittelbaren Effekt der Sanktionen demonstrieren könnten, werden nach Möglichkeit gar nicht mehr veröffentlicht.

      • @LesMankov:

        Genau. Die Sanktionen treffen zur Zeit in erster Linie die Komponenten langlebiger Konsumgüter.

        Wer zB in Russland eine neue moderne Waschmaschine haben will, hat zur Zeit bessere Chancen, wenn die Einheit vom Sohnemann bei Bachmutske kämpft, als im heimischen Weißwarenladen.

        In Russland produzierte PKWs haben kein ABS mehr, keine Airbags, kein Einparksystem usw. Das ist kein dramatischer Verlust, und merken tun es nur die, die sich gerade eine neues Auto zulegen - aber das frisst sich jetzt unaufhaltsam durch die gesamte russische Wirtschaft. China kann nicht helfen, denn dort hat man genug damit zu tun, die Binnennachfrage zu befriedigen.

        Selbst wenn die Sanktionen heute enden würden, würden sie noch viele Monate weiterwirken.

  • Russland im Inneren verhält sich ungefähr so wie das Deutsche Kaiserreich während des ersten Weltkriegs - die Front ist weit, weit weg, das Leben läuft weiter. Nur paar Sachen fehlen eben.

    Ein Steckrübenwinter wie damals aber wird Russland sicher nicht drohen.

    Also: alles schon mal dagewesen, nichts Neues.

  • Das System hat die Menschen über zig Jahre mit Propaganda eingelullt und demoralisiert. Und die, die nicht dran glauben, haben sich in Resignation, Fatalismus oder Desinteresse verabschiedet, bzw. sitzen irgendwo Haftstrafen ab.

    Putin führt Krieg, seit dem er an der Macht ist. Als Erstes hat er den freien Willen seines eigenen Volkes bekämpft. Er hat politische Gegner aus dem Weg geräumt, die Eliten entmachtet und jede Art von politischen Widerstand brutal gebrochen. Das Land hat die Vernichtung von Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Opposition und politischer Mitbestimmung Stück für Stück hingenommen.

    Und so nimmt es auch stoisch hin, wenn das Nachbarland vernichtet wird.

    • @Deep South:

      Eine russische Rentnerin sagte mal vor laufender Kamera, dass viele das politische System ablehnen. Aber wenn man versuchte, Putin zu stürzen, gäbe das ein gigantisches Blutvergießen. Das wolle auch keiner.



      Vielleicht denken die Russen darum, wenn statt der eigenen Regierung wenigstens die Ukrainer erschossen werden, dass es ihnen dann vielleicht auch besser gehen könnte ...

      • @Christian Lange:

        Diese Rentnerin hat ja völlig recht. Zumindest was die bisherigen Zustände betrifft. Im "Frieden", als die russische Armee noch nicht offiziell in den Ukrainekrieg involviert war, gab es keinen Grund für die Soldaten, im Ernstfall nicht stramm hinter dem Regime zu stehen, und jeden gefährlich anschwellenden Massenprotest gewaltsam zu unterdrücken.

        Aber das ändert sich gerade. Die russischen Truppen sehen Tag für Tag aufs Neue, wie scheißegal sie Putin sind. An der Front bleibt ihnen kaum eine andere Wahl, das schäbige Spiel mitzuspielen (auch wenn Meutereien ganzer Kompanien fast schon alltäglich geworden sind). Aber irgendwann geht es wieder zurück in die Heimat, und dann wird sich das Regime nicht mehr darauf verlassen können, dass die einfachen Soldaten bereit sind, es vor dem Zorn der betrogenen und ausgeplünderten Bevölkerung schützen.

        (Das ist allgemeingültig. Auch in Deutschland spielen Afghanistan-Veteranen, denen daheim medizinische Nachversorgung, PTSD-Therapie usw vorenthalten wurde, eine überproportionale Rolle bei Organisation und Logistik der "Hutbürgerdemos". Junge unzufriedene Kriegsveteranen sind ein großes Risiko für jede Regierung.

        Und Putins Aufmarschplanung sorgte dafür, dass Dissens in jede Division der russischen Armee getragen werden kann. Wären, wie üblich, komplette Divisonen eingesetzt worden, statt einem Sammelsurium einzelner Regimenter, wäre zwar das Überraschungsmoment verloren gewesen, aber 3/4 der russischen Armee wären weiterhin ungebrochen regimeloyal, jetzt und in Zukunft.



        So, wie es lief, gibt es stattdessen keine einzige russische Division mehr, in der nicht *irgendwo* über einen Putsch diskutiert wird - von einer kleinen Minderheit, klammheimlich, und noch meist im Zorn statt gezielt und planmäßig.



        Aber bereits wenige Regimegegner machen im Fall eines Staatsstreichs oder Putschs eine Militäreinheit zur Repression unbrauchbar - und das kann bereits reichen, um die Stimmung vollends zu kippen:

        Timișoara, 19.12.1989.)