: Das Fenster zum Hinterhof
Eine 31jährige Mutter wegen fahrlässiger Tötung ihres Sohnes verurteilt ■ Von Lisa Schönemann
Der kleine Kevin (Name geändert) war in der Nachbarschaft als Klettermax bekannt. An einem kalten Morgen kurz vor Weihnachten 1995 fiel er aus dem Fenster seines Kinderzimmers in den betonierten Hinterhof, der Sturz aus dem dritten Stock brach ihm das Genick. Das Hamburger Amtsgericht verurteilte gestern die Mutter des Fünfjährigen wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr Haft auf Bewährung.
Es war ein gewöhnlicher Vormittag in Altona. Die Nachbarinnen gingen zum Einkaufen. Der Lärm aus der Wohnung im dritten Stock, der bis ins Treppenhaus drang, gehörte für sie zum Alltag. Sie hatten die Jungen schon oft weinen gehört. Kevin und sein älterer Bruder schrien und tobten im Kinderzimmer.
Die Mutter und ihr Bekannter schliefen. Dann stand der achtjährige Bruder plötzlich im Schlafzimmer und rief: „Der Kleine ist aus dem Fenster gefallen.“ Als die Mutter hinuntersah, bargen Polizei und Feuerwehr den leblosen Körper im Hinterhof.
Die 31jährige Frau kauerte gestern in einem zugeknöpften Wintermantel vor dem Richter und den beiden Schöffen auf der Anklagebank und brachte kein Wort heraus. Sie schwieg beharrlich, als die Nachbarinnen als Zeuginnen aufmarschierten und ohne mit der Wimper zu zucken Details aus dem Leben der Angeklagten preisgaben. Die junge Kellnerin habe ihre Kinder vernachlässigt und sich lieber um die Züchtung ihrer Hunde gekümmert, so der Tenor des nachbarlichen Redeflusses. Männerbekanntschaften der 31jährigen, deren Mann in Haft sitzt, und ihre Besuche in der Gaststätte nebenan waren im Haus offensichtlich ein beliebtes Thema.
„Die Jungs waren oft allein“, sagte eine 61jährige Rentnerin gestern, „ich hatte sie so gern“. Wenn Kevin und sein Bruder zu ihr kamen, gab sie ihnen fünf Mark für den Imbiß gegenüber. Irgendwann kam sie dahinter, daß die cleveren Jungen für den Heiermann lieber Überraschungseier kauften.
Andere Nachbarinnen schickten die Brüder weg, wenn sie klingelten und Hunger hatten. Das Jugendamt sah keinen Grund, einzuschreiten. Nicht nur in Altona sind viele Kinder tagsüber auf sich allein gestellt.
Die Rentnerin will die Mutter darauf aufmerksam gemacht haben, daß sie Kevin oft an den Fenstern im fünften und letzten Stock des Hauses erwischt hatte. „Is' ja nix Neues“, soll die Angeklagte geantwortet haben, „wenn er ,runterfällt, ist er selber Schuld“.
Kevin übte im Kinderzimmer, sich am Heizungsrohr bis auf den Schrank hochzuziehen. Eines Tages fiel er vom Dach des Toilettenhäuschens auf dem nahegelegenen Spielplatz. Vielleicht hatte er dort oben nach Aufmerksamkeit gesucht. Nach drei Wochen wurde der Junge aus dem Krankenhaus entlassen. „Du hast noch einmal Glück gehabt, das nächste Mal wird es schlimmer“, drohte ihm die Mutter. Das Kinderzimmerfenster wurde mit einem abschließbaren Fenstergriff ausgerüstet, die Tür mit einem zusätzlichen Riegel.
Im Juli 1995 zündelte das eingesperrte Kind in seinem Bett. Nach dem rechtzeitig entdeckten Zimmerbrand mußte ein neues Fenster eingebaut werden. Ohne Schloß. Dafür habe das Geld nicht gereicht, gab die weinende Frau nach Kevins Todessturz bei der Polizei zu Protokoll.
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