piwik no script img

Daniel Cohn-Bendit über die WM„Die Leute sind nicht dumm“

Daniel Cohn-Bendit ist on the road – mit dem Campingbus durch Brasilien. Er kritisiert Staatspräsidentin Rousseff und spricht über linken Patriotismus.

„Ein Offenbarungseid für eine linke Präsidentin“ – Daniel Cohn-Bendit kritisiert Dilma Rousseff. Bild: reuters
Peter Unfried
Interview von Peter Unfried

Eben hat er das EU-Parlament hinter sich gelassen – und kann jetzt ein neues Projekt realisieren: Cohn-Bendit fährt während der WM mit einem Camping-Bus namens Sócrates durch Brasilien, um für Arte einen Film und den täglichen Blog „Danys Day“ über die Beziehung zwischen Fußball und politischem Engagement zu machen.

taz: Herr Cohn-Bendit, in wie viele Gewehrläufe der Militärpolizei haben Sie schon geschaut?

Daniel Cohn-Bendit: Das kommt immer darauf an, wo man ist. Vor den Stadien gibt es überstarke Militärpolizeipräsenz. Aber in der Stadt gibt es nicht mehr, als wenn in Frankreich die deutschen Hooligans im Anmarsch sind.

Wie erleben Sie Begeisterung und Protest?

Der aktive militante Protest ist im Moment sehr klein. Zum einen hat die große Polizeipräsenz verhindert, dass die kleine Opposition auf der Straße größer wird. Zum anderen sind die Stadien weit weg von den Stadtzentren. Und dann gibt es eben eine sehr große Begeisterung, das ist so.

Die Kritik an Vertreibung, Sozialdefiziten, Umweltignoranz und einem monetarisierten öffentlichen Raum ist vergessen?

Bild: dpa
Im Interview: Daniel Cohn-Bendit

Geboren 1945 in Montauban, Frankreich. Der Studentenaktivist wurde nach dem Pariser Mai 1968 in die Bundesrepublik abgeschoben. Seit 1984 Mitglied der deutschen Grünen, von 1994 bis 2014 Mitglied des Europaparlaments.

Nein, die Kritik an der Fifa, der Organisation und der Geldverschwendung angesichts der sozialen Spannungen ist berechtigt. Es ist auch auffallend, dass Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit denen man spricht, diese Kritik teilen. Am meisten ärgert die Brasilianer die Vertreibung der kleinen Händler aus einer 2-Kilometer-Zone vor den Stadien, die nur der Fifa gehört. Aber die Faszination Fußball stimmt auch. Diese Faszination schlägt jetzt zu.

Wie machen Sie das fest?

Bei allen Demos, an denen ich teilnahm, liefen auch die Kritiker in Brasilien-Trikots herum. Und auf einer Protestkundgebung gegen die WM hatten die Kritiker in der Mitte einen Fernseher aufgestellt, damit sie das Spiel sehen konnten. Das ist die Realität.

Hätte Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT das Geld statt für eine WM besser für Bildung und Gesundheit ausgeben sollen?

Das ist ein spannender Streit. Ich habe für meinen Film einen Fußballtrainer in einer Favela in Rio interviewt. Der sagt: Ja, es muss mehr Geld in Erziehung und Gesundheit investiert werden, aber es ist doch nicht wahr, dass es ohne WM mehr Geld dafür gegeben hätte. Man darf auch nicht ignorieren, dass diese WM für Brasilien auch ein wahr gewordener Traum ist.

Für alle?

Ein anderer Mann aus der Favela sagte mir: Die WM findet nicht in Brasilien statt, die findet in Fifaland statt. Wir aus den Favelas schauen genauso zu, als würde sie in Tokio stattfinden. Mittlerweile ist die Begeisterung aber so groß, dass sie wirklich in Brasilien stattfindet.

Für die meisten aber nur am Fernseher.

Stimmt. Nach den Schmähungen gegen Regierungschefin Rousseff beim Eröffnungsspiel, haben ihre Spindoctoren verbreitet, dass die Beleidigungen von politischen Gegnern kämen, weil sich Rousseffs Wähler den Stadionbesuch gar nicht leisten könnten. Selbst in Südafrika gab es Ticketkontingente für Leute mit wenig Geld, in Brasilien nicht. Das ist der wahre Offenbarungseid für eine linke Präsidentin. Skandalös ist auch, dass die Beschimpfungen vom Sender Globo und der Fifa genauso zensiert wurden wie ein Protestplakat einer Indígena-Teilnehmerin bei der Eröffnungsfeier.

Der Protest wird als unpatriotisch denunziert. Können Sie einen linken Patriotismus dagegensetzen?

Da habe ich etwas Irres erlebt, einen Poesiesalon in einem Vorort von São Paulo. Dieser Poesiesalon hat dazu beigetragen, aus einem der härtesten Viertel der Stadt ein Viertel zu machen, in dem sich jeder frei bewegen kann. Es war ein unglaublicher Abend. Drinnen 300 Leute, draußen auch 300, eine unwahrscheinliche Solidarität, sehr gesellschaftskritisch, da wurden alle Protestthemen angesprochen. Am nächsten Abend schaue ich mit den Organisatoren das Eröffnungsspiel. Alle tragen Brasilien-Trikots, alle stehen bei der Nationalhymne auf und schreien die Worte heraus wie die Spieler im Stadion.

Das ist linker Patriotismus?

Ich habe mit wirklich hartgesottenen Randalierern gesprochen. Und nach einer gewissen Zeit sage ich: Und, wer wird Weltmeister? Dann sagen sie alle: Brasilien. Die engagieren sich sozial für Brasilien. Und sind bei der WM für ihr Land. Wo ist das Problem?

Die folkloristische Deutung lautet, dass Fußball das Opium des deklassierten Brasilianers ist. Das dürfe man nicht auch noch bedienen.

Ach, Unsinn. Das ist intellektueller Schmarren. Die Leute sind nicht dumm. Wenn die sich für Fußball begeistern, dann sind sie für Fußball begeistert. Das nimmt dem Protest überhaupt nichts und macht sie auch nicht blind. Sie wollen einfach ein Moment der Leidenschaft erleben. Alle großen Gesellschaftskritiker müssen einsehen, dass sie gegen die Begeisterung nicht ankommen, die Fußball bewirkt.

Sie finden offenbar, dass die WM gut für Brasilien ist?

Ja, die WM in Brasilien ist gut für die Brasilianer. Man hätte es aber sozialer und gerechter machen können.

Und der Fußball? Teilen Sie die Häme über Spaniens Auftaktniederlage?

Nein, das ist der Aufstand der Kleinkarierten. Barcelona und Spanien haben uns ein Jahrzehnt träumen lassen, das war Fußball vom anderen Stern. Die Häme ist die Häme jener, die nie drankamen an die Qualität der Spanier. Ich wünsche mir, dass sie zurückkommen, aber mein Gefühl sagt, dass hier ein Stück Fußballgeschichte zu Ende geht. Ich verneige mich vor den Spaniern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!