DOK Filmfest Leipzig 2015: Für jede Frage gibt es ein Geschenk
Auf dem 58. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm kamen sich Zuschauer und Regisseur diesmal ungewöhnlich nah.
Es war das erste Festival unter der Leitung der neuen Festivaldirektorin Leena Pasanen, die zuvor in Budapest am finnischen Kulturinstitut gearbeitet und davor in verschiedenen Leitungsfunktionen beim finnischen Fernsehen tätig war. Anders als ihre Vorgänger, Fred Gehler und Claas Danielsen, hält sie keine ambitionierte kulturkritische Rede, sondern spricht frei; über die letzten Jahre, die sie in Ungarn lebte, über Legida, die zeitgleich demonstrierte, und dass man dagegen aufstehen müsse. Und dass es sie erschreckt hätte, wie klein der Anteil der Regisseurinnen unter den ausgesuchten Filmen ist. „We need to do something“.
In den Jahren zuvor bestand Dok-Leipzig eigentlich aus zwei Festivals: einem für Animations- und einem für Dokumentarfilm. In diesem Jahr hat man die Grenzen zwischen den Genres eingerissen. Die einzelnen Programme bestehen nun meist aus einem Dok- und einem Animationsfilm und die Preise werden genreunabhängig nach Filmlänge verliehen. Es macht tatsächlich mehr Spaß, einen Animations- und einen Dokumentarfilm hintereinander zu sehen als zwei Dokumentarfilme.
In dem Eröffnungsfilm „Alles andere zeigt die Zeit“ setzt Andreas Voigt seinen Leipzig-Zyklus fort, dessen Anfänge bis 1986 zurückgehen. Protagonisten von früher treten wieder auf: der ehemalige Sharp-Skin Sven, der in den früheren Filmen noch „Papa“ hieß, Isabell, die in seinem Wendefilm noch als linkes Gruftimädchen durch die Gegend hüpfte, die Journalistin Renate, die in den 70er Jahren eine Verpflichtungserklärung für die Stasi unterschrieben hatte.
Svens Versuche, zu heiraten und sich eine bürgerliche Existenz in Westdeutschland aufzubauen, sind gescheitert. Er zieht zurück zu seinem Vater und pflegt ihn. Isabell ist nun Steuerprüferin in Stuttgart, verdient viel Geld, lebt zusammen mit einer Tarantel und fährt mit ihrem neuen Ford Mustang durch die Gegend. Die Journalistin Renate war mal Stasi-IM. Sie bemüht sich vergeblich, im neuen Deutschland anzukommen. 2001 nimmt sie sich das Leben. Die letzten 30 Jahre werden noch einmal lebendig. Geheimnisvoll und schön sieht das Leipzig vor 1989 aus, was auch am damaligen Filmmaterial liegt, doch vieles bleibt offen. Vielleicht weil die Helden zu sehr die Geschichte der letzten 30 Jahre illustrieren sollen.
Das Festival ist sehr angenehm und unaufgeregt. Das Publikum sehr aufmerksam. In den Filmen lernt man viele Leute kennen – und die Verhältnisse, in denen sie leben. Manche Filme recherchieren ein einzelnes Ereignis, wie etwa Alexander Oeys „Pekka – Inside the Mind of a School Shooter“, der einen Amoklauf im beschaulichen finnischen Jokela rekonstruiert. Andere, wie Lutz Dammbecks 160-minütiger, überraschend unterhaltsamer Filmessay „Overgames“, zeigen Verbindungslinien auf – zwischen den Festen der Französischen Revolution, der amerikanischen Vorkriegspsychiatrie, amerikanischen und westdeutschen Spielshows und der Reeducation im Nachkriegswestdeutschland.
Meth-süchtigen Rednecks
Einige Dokumentationen, wie etwa der sehr körperliche „The Other Side“ von Roberto Minervini, der von teils Meth-süchtigen Rednecks in Louisiana erzählt, lassen sich eigentlich nicht mehr von Spielfilmen unterscheiden. Andere, wie Vitaly Manskys in Nordkorea spielende Dokumentation „Under the Sun“, legen ihre den Umständen geschuldete Inszeniertheit offen.
Am besten hatte mir das Programm mit dem südkoreanischen Film „With or Without You“ gefallen. Auch weil Kim Seung-hee, die Regisseurin des schönen zweiminütigen Animationsfilms „Mirror in Mind“, zu jedem, der eine Frage stellte, hinging und ihr beziehungsweise ihm ein kleines Geschenk überreichte.
„With or Without You“ von Hyuck-jee Park erzählt von zwei alten Frauen, die seit 45 Jahren zusammenleben. Weil Maggi keine Kinder mehr bekommen konnte, hatte ihr Mann eine Leihmutter in die Familie geholt. Der Mann ist längst tot; Chun-hee blieb in der Familie. Beide laufen unglaublich gebückt durch die Gegend, bestellen das Feld, machen sauber, scherzen miteinander.
Die ehemalige Leihmutter ist etwas jünger und kann nicht so gut denken. Die etwas ältere Mutter macht sich Sorgen, was wohl aus ihrer Freundin werden wird, wenn sie tot ist. Es macht viel Freude, den beiden zuzusehen, wie sie miteinander agieren. Sie führen ein gutes Leben. Alles ist völlig unsentimental und oft auch komödiantisch.
Mit der goldenen Langfilm-Taube wurde Wojciech Starońs Film „Brothers“ ausgezeichnet, der von einem alten polnischen Brüderpaar erzählt. Die Goldene Taube für den besten animierten Dokumentarfilm erhielt die deutsche Videokünstlerin Betina Kuntzsch, verliehen für ihr Werk „Wegzaubern”, in dem sie Laterna-Magica-Bilder mit Texten aus der Prinzhorn-Sammlung kombiniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei