Crowd-Projekt „Refugee Phrasebook“: „Mein Kind hat Hunger“
Die wichtigsten Sätze für Geflüchtete in 30 Sprachen: Das Refugee Phrasebook soll die Kommunikation erleichtern. Viral verbreitet es sich in Europa.
Sie können Kleider und Lebensmittel spenden und sammeln, in Unterkünften aushelfen, sich um die Kinder und Jugendliche kümmern, Rechtsberatung anbieten, Deutsch unterrichten und mit besorgten Nazis im Netz diskutieren – oder Sie füttern das “Refugee Phrasebook“, das Projekt der Organisation Berlin Refugee Help. Es unterstützt Flüchtlinge und Helfer mit Vokabeln und Phrasen.
In derzeit rund 30 Sprachen stehen darin Floskeln zur Verständigung, wichtige Sätze für die medizinische Versorgung und juristische Bausteine für die Behörden. Das Besondere daran: Es wurde mit einem viralen Kraftakt im Netz erschaffen – ohne Geld, Verlag oder Druckerei.
An Schengener Grenzen und großen Bahnhöfen fehlt es in diesen Tagen vor allem an Worten. Erste Bausteine für einen Dialog zwischen Flüchtlingen und Helfern hat deshalb eine Gruppe Freiwilliger online gestellt. Was mit einem leeren Google Doc Sheet begann, explodierte binnen weniger Tage auf Facebook. Heute stehen 300 Einträge in je rund 30 Sprachen in der Vokabeltabelle. Und täglich kommen weitere Einträge hinzu. Auf Deutsch, Englisch, Arabisch, Armenisch, Urdu, Tigrinya, Farsi.
Der erste Blick in die losen Seiten des Phrasebook wirkt zunächst wie das letzte Kapitel eines Reiseführers. Grundlegende Kommunikationsfetzen sind dort in allen möglichen Sprachen aufgelistet: „Hallo“, „Guten Abend“, „Ich heiße“. Zahlen und Tage. Ein paar Zeilen später folgt der feine Unterschied. Statt „Wie viel kostet das Kleid?“ und „Fahren Sie uns bitte zum Flughafen“ werden dort ganz andere Phrasen übersetzt: „Mein Kind hat Hunger.“ „Wir brauchen Schlaf.“ „Ich wurde vergewaltigt.“
Mittlerweile gibt es vorgefertigte Versionen für Flüchtlinge und Helfer in Deutschland sowie für die Grenzen von Ungarn und Griechenland. Eine Gruppe von Ärzten hat eine medizinische Variante ausgearbeitet, eine juristische Version mit Behördenfloskeln ist momentan in Arbeit. Das Phrasebook wächst und schon jetzt kann die Gruppe gar nicht mehr benennen, welche und wie viele Leute insgesamt diesen Kraftakt geschultert haben.
Schwarmintelligenz und Hybrid Publishing
Da gab es jemanden, der die Website gestaltet hat, auf der sich jeder sein individuelles Wörterbuch zusammenstellen kann. Andere haben sich darum gekümmert, einen Übersetzer für Paschtu zu finden. Wieder andere haben geholfen, Spenden zu sammeln für den Druck einiger Ausgaben, die an der ungarischen Grenze verteilt werden. Es gibt dabei keine editorische Kontrolle, keine Autorenschaft, kein Copyright. Fehler sollen im Dunst der Schwarmintelligenz von allein verschwinden, wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Situationen, in denen auf die Schnelle viele Phrasebooks gebraucht werden, lösen sich via Hybrid Publishing: Dann springen solidarische Verlage, Universitäten, Firmen und Privatleute ein, um vor Ort ein paar hundert oder tausend Ausgaben zu drucken. Auf griechischen Inseln, am Wiener Hauptbahnhof, sogar nach Calais hat es die virale Vokabeltabelle geschafft. In Kroatien arbeitet selbst die Polizei mit ihr.
Am schnellsten verbreitet sich das Projekt jedoch digital als Wikibook im Netz. So kann es jeder frei verwenden, erweitern, zusammenstellen, drucken, auf A5 falten, abheften und verteilen. Das spart Kosten und Wege, insbesondere, wenn Sprachbarrieren schnell überbrückt werden müssen.
Nun wird überlegt, das Refugee Phrasebook als App aufs Smartphone zu bringen. Es geht schließlich immer noch ein bisschen simpler und schneller.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme