Coronapolitik des Berliner Senats: Flashback in den Herbst 2020

Berlins Regierender Bürgermeister kündigt Einschränkungen an, ohne konkret zu werden. Es wirkt, als habe Berlin nichts aus dem Lockdown gelernt.

Michael Müller gestikutliert auf einer Pressekonferenz

Michael Müller nach der Sitzung des Senats am Dienstag Foto: dpa

Michael Müller – das sei vorweg betont – ist einer der Gewinner der Coronapandemie, wenn man das so formulieren darf. Berlins Regierender Bürgermeister war bereits auf dem besten Weg, von seiner SPD im Amt demontiert zu werden, als das Virus kam. Zuvor vielfach als entscheidungsunfreudig, zaghaft und in der Kommunikation schwach kritisiert, erwies sich der heute 56-Jährige als erfolgreicher Manager der Krise.

Natürlich hat auch Müller wie alle Po­li­ti­ke­r*in­nen in Deutschland Fehler gemacht oder Fehleinschätzungen geäußert im Umgang mit der Pandemie – aber keine, die im Nachhinein ernsthaft gegen ihn verwendet werden konnten. Das können nicht viele von sich sagen. So darf Müller mit weißer Weste und bereit für Höheres nach dem 21. Dezember, dem Tag der Wahl seiner Nachfolgerin Franziska Giffey, in den Bundestag ziehen.

Am Dienstag hatte man freilich den Eindruck, als sei er gedanklich schon längst dort. In der üblichen Pressekonferenz nach der Sitzung des Senats trat Müller gemeinsam mit der ebenfalls scheidenden Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) vor die Presse; eigentlich ein Zeichen, wie wichtig ihm das Thema Corona und der Umgang damit im anstehenden zweiten Pandemiewinter war.

Doch Müllers Auftritt konterkarierte das. Denn er erging sich in Andeutungen und abstrakten Mahnungen. Müller wirkte, als sei er ein Anfänger in Sachen Pandemiebekämpfung – und als hätte niemand in Berlin Erfahrungen damit.

Sollten Müllers geäußerte Ahnungen etwa Drohungen sein? Oder potenzielle Handlungsbereitschaft signalisieren?

Das begann mit dem Statement: „Wir haben viel erreicht, aber wir sind bei weitem nicht an dem Punkt, wo wir sagen können, wir können uns zurücklehnen.“ Später fabulierte er darüber, dass er „keinen Spielraum für Sonderveranstaltungen und Modellprojekte“ mehr sehe, genauso wenig wie für Clubnächte und große Sportveranstaltungen in Hallen. Und schließlich brachte er als neue Maßnahme 2G plus Test ins Spiel, ohne sagen zu können, wer die Tests bezahlen werde. Die Finanzierung der Bürgertests hatte der Bund Mitte Oktober eingestellt.

Sollten Müllers geäußerte Ahnungen etwa Drohungen sein? Oder potenzielle Handlungsbereitschaft signalisieren? Denn es folgte die Ankündigung, in der folgenden Woche wolle sich der Senat nochmal dem Thema widmen und vielleicht sogar etwas entscheiden. In der Zwischenzeit haben andere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Sachsen längst gehandelt, und Maßnahmen verändert.

Oder war Müllers Auftritt als reichlich verschnörkeltes Signal an den Bund gedacht, endlich Entscheidungen zu treffen, auf die die Länder aufbauen könnten, etwa was Booster-Impfungen und die Kostenübernahme für Tests und freizuhaltende Betten auf Intensivstationen angeht?

Die Pressekonferenz am Dienstag erinnerte frappierend an einen ähnlich hilflosen Auftritt Müllers Mitte Oktober 2020, zum selben Thema. Auch da zögerte der Bund, mit drastischen Maßnahmen gegen die stark steigenden Coronazahlen vorzugehen – immer in der Hoffnung, das in den Monaten zuvor verkündete Mantra, man brauche keinen erneuten Lockdown, weil man das Virus inzwischen so gut kenne, möge sich doch noch als wahr erweisen. So kam es bekanntlich nicht.

Müller hielt damals aktuelle Statistiken in die Kameras, um seine reichlich müde wirkenden Appelle an die Bevölkerung, sich aus Gründen des Infektionsschutzes zurückzunehmen, zu unterstreichen. Zwei Wochen später schloss die Bundesregierung die Kinos, Restaurants, Theater. Die als „Lockdown light“ angekündigte Maßnahme, die Weihnachten retten sollte, mündete schließlich in derart umfassende Einschränkungen des alltäglichen Lebens, wie sie die Bundesrepublik noch nie erlebt hatte.

Alarmierende Zahlen

Droht das nun erneut, auch wenn das die Bundespolitik bereits ausgeschlossen hat? Ist es das, was Müller uns sagen wollte, aber nicht formulieren konnte oder wollte?

Tatsächlich sind die Zahlen auch in Berlin alarmierend – wobei sich in der Vergangenheit beileibe nicht jede Prognose über die Weiterentwicklung der Pandemie als zutreffend erwiesen hat. Wir wissen eben doch vieles über das Virus noch nicht.

Aber angesichts einer Sieben-Tage-Inzidenz von 350 bis 450 in den Altersklassen von Kita und Grundschule, für die nur zu einem sehr geringen Teil eine Impfung möglich ist, dürften verschärfte Regelungen nur eine Frage der Zeit sein. Und auch die allgemeine Inzidenz und die steigende Zahl von Covid-Patient*innen auf Intensivstationen fordern eine Reaktion der Politik.

Sie steht dabei vor großen Herausforderungen: Wie unterschiedlich dürfen Geimpfte, Nicht-Geimpfte und jene, die sich nicht impfen lassen können, also etwa Kinder, behandelt werden? Wo darf es überall 2G geben? Wo noch 3G? Und wie kann man das eventuell kompensieren? Die große Frage in diesem Winter wird die nach sozialer Gerechtigkeit werden.

Doch sie lässt sich nicht mit abstrakten Andeutungen klären. Denn die Pandemie hat zumindest eines gelehrt: Politik und ihre Maßnahmen müssen so konkret wie möglich formuliert sein, sonst erzeugen sie bei den Bür­ge­r*in­nen vor allem Unsicherheit und letztlich vielfach eine Abwehrhaltung, die in diesem Fall lebensgefährlich sein kann.

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