Coronapandemie und Anpassung: Dann machen wir eben neue Pläne
Die Pandemie zwingt uns dazu, mit dem Weitermachen aufzuhören. Wir müssen uns den Umständen anpassen.
D ie Erzählung des „beschissenen Jahres 2020“ hat ein bisschen geholfen. Sie hat sogar ganz gut funktioniert, solange der Jahreswechsel noch nicht in Sichtweite war. Weil man eben manchmal eine:n Schuldige:n braucht. Und der reflexhafte Ausruf nach dem „Scheißjahr“ hat die maximale Hoffnung mitgetragen, dass im nächsten Jahr alles besser wird – und sich diese Besserung bitte schon an Weihnachten einzustellen hat. Vielleicht geht 2020 einfach als verlorenes Jahr in die Weltgeschichtschronik ein, aber immerhin ist es fast geschafft. Nur noch wenige Tage bis Silvester! Noch wenige Tage bis zum Neuanfang!
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Die Realität sieht anders aus. Dass die Wunschvorstellung von der Erlösung vom Coronamarathon zum Jahresende nicht eintritt, ist längst klar. Wir verstehen diesen Umstand trotzdem nur sehr langsam, haben aber keine Wahl mehr. Während wir uns im Sommer noch einreden konnten, der Winter würde niemals kommen, meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut am letzten Dienstag 952 Todesfälle. Neunhundertzweiundfünfzig Menschen, die an oder im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind. In 24 Stunden.
Deutschland hat bewiesen, dass es kollektive Eigenverantwortung nicht kann. Viele haben sich im Einzelnen Mühe gegeben, aber alle zusammen nicht genug. Wohlstandsmenschen glauben selbst in einer Pandemie noch daran, unverwundbar zu sein. Politisch Verantwortliche zeigen, dass sie oft noch zu viel europäische Arroganz in sich tragen, um von anderen Ländern und Gesellschaften lernen zu wollen.
Und wir? Wir sind jetzt noch ein bisschen ekelhaft zueinander, weil wir spüren, wie ungleich und ungerecht unsere Gesellschaft ist. Schieben Schuld zu und wälzen Verantwortung auf andere ab. Manchmal landet beides bei uns selbst. Manchmal finden wir, dass wir doch alles richtig machen, während andere egoistisch sind. Wir pendeln zwischen Wut und Resignation, weil wir doch wenigstens auf Weihnachten gehofft hatten, auf den Jahreswechsel. Auf eine Belohnung, auf ein „Wie immer“.
Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn
Zwischen den Jahren ist eigentlich die einzig sinnvolle fünfte Jahreszeit. Ein Dazwischen-Raum, in dem die Welt gleichzeitig stehen bleibt und sich weiterdreht – ein bisschen so, als wäre ein Kind neu geboren oder ein Mensch gerade verstorben. Als würde man kurz nicht nur wissen, sondern auch ganz stark spüren, was wirklich wichtig ist im Leben. Als wäre man für einen kurzen Moment genau gleich viele Schritte von Vergangenheit und Zukunft entfernt.
Diese Zeit hebt sich heraus aus dem Alltagstrott, weil wir entschieden haben, dass sie symbolisch ist. Menschen zählen an Silvester von zehn bis „Happy New Year!“ runter, obwohl die Sekunde nach Mitternacht gar nichts ändert. Aber sie steht für so viel. Für den Wunsch nach, nun ja, Happiness eben. Für einen neuen Kalender, neue Möglichkeiten, neue Pläne. Normalerweise.
Pläne zu schmieden, hilft dabei, eine positive Grundeinstellung zu behalten. Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn. Pläne strukturieren Tage, Wochen und Monate. Pläne können auch Belohnungen sein, auf die wir uns freuen. Seit Corona ist das anders. Wir können nichts mehr planen, jedenfalls nicht so, wie wir es gewohnt sind.
Nun ist Lockdown, nicht light, sondern heavy. „Wie immer“ ist aus guten Gründen abgesagt, und es tut natürlich immer weh, schöne Pläne kurz vor Schluss absagen oder ändern zu müssen. Aber wir sind nun mal weder „fast da“, noch wissen wir genau, wie diese Zeit aussieht, in der wir nach Corona ankommen sollen.
Es gibt keine Garantie mehr für die alten Pläne, und schon gar kein selbstverständliches Recht auf sie – eigentlich hätte uns die Klimakrise schon längst in diesen Zustand versetzen müssen. Keine Garantie für den nächsten Sommerurlaub, keine Garantie für einen ausgelassenen Geburtstag und keine Garantie für Sicherheit. Jedenfalls nicht unter den alten Bedingungen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug ins Freie
Für viele Menschen und Gesellschaften auf der Welt ist dieser Zustand der Unsicherheit längst Alltag. Keine Pläne mehr machen können wie früher, weil der Fluss seit Jahren droht, das Dorf zu überschwemmen. Weil das nächste Feuer das Zuhause auffressen könnte. Weil man im Kugelhagel sein Leben verlieren kann. Nicht genug zu essen hat.
So viele Menschen auf der Welt spüren jeden Tag, dass das Leben unfair ist und sie manches nicht in der Hand haben. Viele von ihnen haben auf ganz unterschiedliche Arten Resilienz entwickelt, sie sind geübt in Kreativität, Spontanität und Improvisation. Das sind zunehmend wichtige Fähigkeiten, nicht erst seit der Pandemie, aber durch sie noch verstärkt. Von diesen Menschen können wir viel lernen. Nicht Leben mit Resignation, sondern wie man sich von alten Plänen verabschiedet und neue, den Umständen entsprechende, zeitgemäße Pläne macht.
Das mag ungewohnt sein, ist aber möglich, auch im Kleinen. Wir könnten Pläne machen, die auch unter den aktuellen Umständen umsetzbar sind: Ein Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug in die Kälte. Ein Päckchen oder eine Karte für die, die sich gerade allein fühlen. Man kann auch netter zu sich selbst sein, oder es zumindest versuchen. Statt irgendwelcher Urlaubspläne für den Sommer 2021 schmiedet man Pläne für morgen und übermorgen. Statt immer alles allein schaffen zu wollen, bittet man um Hilfe und Unterstützung, wenn es zu schwer wird. Oder man versucht sogar mal, gar keine Pläne zu machen.
Natürlich kann nicht nur jede:r Einzelne anders Pläne schmieden. Auch das kollektive Wir muss lernen, sein Planungswesen einer unsicheren Zeit anzupassen – und zwar nicht nur akut, sondern auch langfristig und nachhaltig. Systemische Sicherheit zu schaffen, bedeutet dabei mehr denn je, Sicherheit für die zu schaffen, die besonders vulnerabel sind.
Menschen haben Frühwarnsysteme entwickelt, die vor Erdbeben und Tsunamis warnen. Sie können also auch in einen Gesundheitssektor mit fairer Bezahlung investieren, der nicht krank macht, und für alle Menschen ungeachtet ihrer finanziellen Lage, ihres Geschlechts, ihrer Religion und ihres Aussehens die bestmögliche Versorgung bietet. Oder ein Parlament wählen, das aus Menschen möglichst diverser Lebensrealitäten besteht, um einen tatsächlichen Querschnitt der Gesellschaft abzubilden. Oder endlich einsehen, dass Wohlstand keine Unverwundbarkeit mit sich bringt, sondern Verantwortung gegenüber denen, die an Europas Außengrenzen in überschwemmten Zelten sitzen.
Die unerträgliche Leichtigkeit von allem Guten und Schlechten
Ja, 2020 ist ein Scheißjahr. Aber 2020 ist auch das Jahr, in dem wir die unerträgliche Gleichzeitigkeit von allem Guten und Schlechten endlich wirklich mal fühlen mussten. Und unsere Überforderung damit. In diesem Jahr zwischen den Jahren dürfen wir daran glauben, dass es 2021 bergauf geht. Wir dürfen der alten Normalität etwas hinterhertrauern und über eine neue nachdenken, uns hilflos fühlen und trotzdem hoffnungsvoll. Wir können traurig sein, nicht wie sonst mit der Familie zusammenzukommen, oder uns total darüber freuen, keine Verwandtschaft sehen zu müssen. Oder Weihnachten total egal finden. So oder so bleibt die Welt kurz stehen und dreht sich gleichzeitig weiter.
Sicher ist, dass die Coronapandemie uns zu etwas zwingt, nach dem Politik und Gesellschaft so oft gerufen, es aber nur selten umgesetzt haben: Nicht weitermachen, wie bisher. Und dabei müssen wir nicht nur geliebte, aber teils überholte Pläne wegwerfen – wir machen im Idealfall auch Platz für neue.
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