piwik no script img

Coronamaßnahmen in ÖsterreichAufsperren um jeden Preis

Die Infektionszahlen in Österreich steigen, trotzdem plant die Bundesregierung erste Lockerungen. Besonders das Bundesland Vorarlberg prescht vor.

In Österreich für die Versicherten kostenlos verfügbar: Der Coronaschnelltest zum Eigengebrauch Foto: Tobias Steinmaurer/imago

Wien taz | Aufsperren, aber nur ein ­bisserl, heißt die Devise der österreichischen Coronapolitik. Während die steigenden Infektionszahlen einen neuen Lockdown nahelegen würden, macht die Wirt­schaft Druck, möglichst schnell zu öffnen. Was herauskommt, ist eine ­Coronastrategie der schrittweisen Öffnung auf Bunde­sebene und ein Experimentierlabor in Vorarlberg, wo alles schneller gehen soll.

Österreichs westlichstes Bundesland weist mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 71 die besten Werte auf. Auch die Nachbarländer Schweiz, Liechtenstein und Baden-Württemberg liegen besser als Österreich insgesamt. Und der Arlberg garantiert, dass Nichttiroler schnell auf einen Teller Kässpätzle ins Nachbarbundesland fahren.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beginnt keine Pressekonferenz ohne Selbstlob. Mit 2,5 Millionen Coronatests wöchentlich sei Österreich Weltmeister im Testen. Tatsächlich werden in allen Bundesländern Gratistestungen dezentral angeboten. Schulkinder müssen jede Woche vor dem Unterricht mittels „Nasenbohrertest“ nachweisen, dass sie virenfrei sind, auch in vielen Betrieben wird das Personal regelmäßig getestet. Die Polizei prüft sich mit dem in Wien entwickelten Gurgeltest. Und seit Montag kann man den „Nasenbohrertest“ in Apotheken gegen Vorweis der elektronischen Gesundheitskarte auch für den Privatgebrauch abholen. Fünf Stück monatlich stehen jeder und jedem Versicherten zu: gratis.

„Rollen Sie den Tupfer fünfmal entlang der Schleimhaut im Nasenloch, um sicherzustellen, dass sowohl Schleim als auch Zellen gesammelt werden“, heißt es auf dem kleingedruckt beschriebenen Beipackzettel, Größe A4. Für die erste Woche wurden drei Millionen Tests an die Apotheken ausgeliefert. Die Nachfrage am ersten Tag hielt sich aber noch in Grenzen. Denn ein negatives Ergebnis taugt nicht für den Besuch bei der Friseurin oder im Restaurant, sondern dient nur der eigenen Beruhigung vor dem Besuch bei der Oma oder bei Freunden.

Unter dem Druck der Wirtschaftslobby

Geschäfte und körpernahe Dienstleistungen sind bereits seit drei Wochen wieder offen. Seither steigen auch die Infektionszahlen. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg österreichweit von rund 100 auf 161, die durchschnittliche Neuansteckungsrate liegt bei 2.000 Fällen täglich. Trotzdem soll ab Mitte März der Klubsport im Freien für Kinder und Jugendliche wieder möglich sein. Mit Beginn der Osterwoche dürfen auch Bewirtungsbetriebe wieder aufmachen, allerdings nur draußen.

Anders ist das in Vorarlberg, wo Restaurants schon Mitte März bis 20 Uhr Gäste empfangen dürfen, auch in Innenräumen. Auch der Kulturbetrieb erwacht. Im Ländle sollen die Nasenbohrer- oder Wohnzimmertests für Lokalbesuche ausreichen. Das „Pilotprojekt“ Vorarlberg werde wissenschaftlich begleitet, sagte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), der bekanntermaßen eher auf der Bremse steht.

„Es ergibt wenig Sinn, wenn wir Verbote aussprechen und die Menschen sich dann im privaten Bereich treffen und sich nicht dran halten“, begründete Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) die bevorstehende Öffnung der Gastgärten. Infektionen in den Alterskohorten der 15- bis 24-Jährigen steigen am stärksten an. Sie sind kaum von schweren Verläufen betroffen.

Da die Alten- und Pflegeheime nebst Personal weitgehend durchgeimpft sind, ist auch die Belegung der Intensivbetten zurückgegangen. In den nächsten Wochen sollen die über 80-Jährigen, die zu Hause leben, und Menschen mit Vorerkrankung drankommen. In Wien verlaufen 48 Prozent der beim Testen nachgewiesenen Covid-19-Erkrankungen asymptomatisch und auch beim Contact Tracing sticht die Bundeshauptstadt heraus: In 72 Prozent der Fälle wird die Ansteckungsquelle gefunden.

Nicht nur die Coronafatigue der Bevölkerung dürfte zu den Lockerungen beigetragen haben. Viel handfester ist der Druck der Wirtschaftslobby. Gastronomiebetriebe und Hotellerie sind seit mehr als 17 Wochen geschlossen und der Frust ist groß. So ist auch Mario Pulker vom Fachverband Gastronomie in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) mit der Gastgartenlösung nicht glücklich. Man wisse, „wie volatil das Wetter im April sein kann“. Nasskalte Tage zu Ostern sind keine Seltenheit.

Sollte bis Ostern die Infektionsrate außer Kontrolle geraten, wird auch aus der Öffnung nichts. Man lässt sich derzeit auf einen Wettlauf zwischen dem Virus und der Immunisierung der Bevölkerung ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • "Viel handfester ist der Druck der Wirtschaftslobby."

    Es könnte allerdings auch etwas mit den 520.919 Arbeitssuchenden und 417.113 Menschen in Kurzarbeit, lt. AMS Statistik Jänner, zutun haben.

  • Ich halte nicht viel von Herrn Kurz, muss aber sagen, dass ich die aktuelle Fahrweise von Kurz als sehr sinnvoll und richtungsweisend empfinde. Es kann keine Lösung sein, Menschen immer und immer wieder ohne weitere Schritte von einer Lockdownverlängerung zur nächsten zu vertrösten, es hieße ja nur noch ein bisschen durchhalten. Gesundheit und Leben bedeutet eben doch nicht nur, virenfrei zu sein.

    Alles zu opfern kann keine Dauerlösung sein. Es müssen kreativere Wege her und ja, auch riskantere Wege.

    Schüler monatelang zuhause zu isolieren, ohne jegliche Perspektive macht krank. Auch das gehört zur Volksgesundheit! Und auch das muss verantwortungsvoll mit einberechnet werden.



    Ebenso wirtschaftliche Not. Nachweislich führt auch diese, und das weiß man schon weit länger, als es COVID-19 gibt, zu körperlichen Krankheiten. Die Wirtschaft nicht ganz im Stich zu lassen ist also durchaus und auf ganz massive Art und Weise notwendig, um die Volksgesundheit dauerhaft sicherzustellen.

    Gesundheit hat viele Facetten. Keinen Virusinfekt zu haben ist einer davon. Aber nicht alles!