Coronamaßnahmen im Einzelhandel: Schlangen, Hamster und Mausklicks
In der umsatzstärksten Zeit des Jahres verschärfen Bund und Länder die Coronamaßnahmen im Einzelhandel. Onlinekonzerne profitieren davon.
Normalerweise beginnt in diesen Tagen die für den Einzelhandel umsatzstärkste Zeit des Jahres. Rund 20 Prozent des Jahresumsatzes werden in dieser Zeit vor Weihnachten erwirtschaftet. Doch wegen der Pandemie sind 2020 die Zeiten nicht normal. Haben die Geschäfte vor allem in den Innenstädten unter der Schließung von Restaurants, Cafés, Kinos und Kultureinrichtungen bereits im November gelitten, kommt es für sie im Dezember noch dicker.
Angesichts der weiter hohen Corona-Infektionszahlen haben sich Kanzleramt und die Ministerpräsident*innen der Bundesländer am Mittwochabend auf eine weitere Verschärfung der Maßnahmen beim Einzelhandel geeinigt. Bei Ladenflächen mit bis zu 800 Quadratmetern soll je 10 Quadratmeter ein Kunde zulässig sein, ab einer Verkaufsfläche von über 800 Quadratmetern ist nur noch ein Kunde auf je 20 Quadratmeter erlaubt. Vorher galt für alle Geschäfte einheitlich ein Kunde pro 10 Quadratmeter Verkaufsfläche. Abweichungen von dieser verschärften Regelung können Länder nur dann zulassen, wenn die Landkreise eine Inzidenz von weniger als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen haben.
Die Kritik des Einzelhandels ließ am Donnerstag nicht lange auf sich warten. Es gebe „keinen sachlichen Grund, unterschiedliche Regelungen für Verkaufsflächen über und unter 800 Quadratmetern zu erlassen“, wetterte des Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands HDE, Stefan Genth. Er moniert, die bisherigen Hygienekonzepte im Einzelhandel hätten sich „sowohl in kleinen wie auch in den größeren Räumlichkeiten von Geschäften, Supermärkten, Kaufhäusern und Einkaufszentren bewährt“. Dafür haben viele Geschäfte auch viel investiert. „Viele Innenstadthändler stehen vor der Insolvenz“, befürchtet der HDE-Chef. Ohne staatliche Unterstützung sei das für sie nicht mehr zu stemmen.
Auch aus infektiologischer Sicht machen diese Maßnahmen seiner Ansicht nach wenig Sinn. Vielmehr berge diese Neuregelung das Risiko, dass sich vor den Läden nun lange Schlangen bildeten und die Infektionsgefahr steigt. Gerth warnt: Bei anstehenden Kund*innen könnte das allgemeine Gefühl aufkommen, die Waren seien knapp. Die Konsequenz wären Hamsterkäufe im Lebensmittelhandel wie schon beim ersten Lockdown im Frühjahr.
Amazon dürfte profitieren
Ohnehin fürchtet der Einzelhandel, bei den Konsument*innen an Attraktivität zu verlieren. Schon lange vor der Pandemie gab es den Trend hin zum Onlinehandel. Dieser Trend dürfte sich in den letzten Wochen und Monaten massiv beschleunigt haben. Schon in den ersten drei Wochen des Teillockdowns im November sind die Umsätze im Innenstadthandel laut Handelsverband um durchschnittlich 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Im Bekleidungshandel lag das Minus sogar bei 40 Prozent. Für Dezember geht der Verband davon aus, dass Umsätze in Höhe von 2 Milliarden Euro vom stationären Handel in den Onlinehandel verlagert werden. „Die Verbraucher werden auch in Coronazeiten zu Weihnachten Geschenke kaufen“, sagt Gerth. „Unter den Bedingungen des Teillockdowns erledigen sie ihre Einkäufe aber lieber online.“
Vor allem US-Onlineriese Amazon dürfte von dieser Entwicklung massiv profitieren. Die Gewerkschaft Verdi geht davon aus, dass Amazon allein in Deutschland den Umsatz seit Beginn der Coronapandemie um rund 40 Prozent gesteigert hat. Das Vermögen vom Unternehmenseigner Jeff Bezos liegt nach Angaben des US-Magazins Forbes bei über 180 Milliarden US-Dollar.
Verdi hat rund um den Einkaufstag Black Friday an sieben deutschen Versandzentren zu Arbeitsniederlegungen aufgerufen. Denn Amazon weigert sich seit Jahren, Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels anzuerkennen.
Dabei gebe es Alternativen zu Amazon. Zahlreiche stationäre Geschäfte haben ihren Onlineauftritt professionalisiert und bieten ihre Waren eigenständig im Versandhandel an. Mehr Umsätze auf diesem Wege würde durchaus dazu beitragen, ihre stationären Geschäfte zu bewahren.
Auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt der Aufruf von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in der Bild. Während Kanzlerin Merkel die Bürger am Mittwoch erneut explizit dazu aufforderte, möglichst zu Hause zu bleiben, plädierte Altmaier dafür, mit den Öffnungszeiten beim Einzelhandel möglichst „großzügig und flexibel umzugehen“ und für mehr verkaufsoffene Sonntage. Den Erhalt des stationären Einzelhandels bezeichnete er als „nationale, ja auch eine patriotische Aufgabe“. Was er aber meint, ist die Zeit nach der Pandemie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann