Coronakrise in Russland: Mundtoter Medizinbetrieb
Bis zu 250.000 Menschen könnten in Moskau mit Corona infiziert sein. Hinzu kommen mysteriöse Unglücksfälle von Ärztinnen und Sanitätern.
Auch Alexander Schulepow stürzte in der Nähe von Woronesch aus dem zweiten Stock einer Klinik und erlitt einen Schädelbasisbruch. Der Sanitäter sollte, gerade hatte er von seiner Covid-19-Infektion erfahren, mit den Kollegen weiter zusammenarbeiten.
Natalja Lebedewa, Leiterin der Unfallstation in Swesdnij in der Nähe der russischen Hauptstadt Moskau, soll Suizid begangen haben, weil sie angeblich Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt hatte.
Drei mysteriöse Fälle in kürzester Zeit. Das stärkt nicht das Vertrauen in die Verantwortlichen. Viele Bürger zweifeln ohnehin an den offiziellen Infektionszahlen.
Platz sieben unter den Coronastaaten
Am Wochenende stiegen die täglichen Neuinfektionen erstmals auf über 10.000. Am Dienstag waren es 10.102. Bislang nahmen die Infektionen langsamer zu. Auch die Todesrate mit landesweit 1.451 Toten war niedrig im Vergleich zu den europäischen Nachbarn. Inzwischen sind jedoch mehr als 155.370 Menschen infiziert. Russland liegt damit auf Platz sieben unter den Coronastaaten.
Dass es nicht so glimpflich verlaufen werde, ahnte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin schon vor Längerem. Präsident Wladimir Putin hatte den Stadtvorderen vorher zum Chef des Krisenstabs ernannt.
Bei einem Besuch des in nur einem Monat aus dem Boden gestampften Infektionskrankenhauses Kommunarka am Stadtrand Moskaus wies der Bürgermeister Putin Ende März daraufhin, hinter den Zahlen könne sich noch eine hohe Dunkelziffer verbergen. Vor allem über die Verbreitung des Virus in den Regionen sei wenig bekannt. Präsident Wladimir Putin schien die Gefahr damals anders einzuschätzen und beruhigte die Bürger, alles sei „unter Kontrolle“.
Den Höhepunkt der Epidemie erwartet der Krisenstab erst ab Mitte Mai. Langsam nehmen jedoch die Sorgen zu, dass auch Moskaus medizinische Einrichtungen an ihre Belastungsgrenzen stoßen könnten.
Auf die Schnelle umgerüstet
Kein Grund zur Beunruhigung, heißt es von offizieller Seite. Auch für den größten Ansturm seien Ausweichquartiere in Vorbereitung. Eines davon in den Räumen eines Autohauses, ein anderes auf dem Gelände der sowjetischen „Allunionsausstellung“. Auch werden Abteilungen anderer Kliniken auf die Schnelle umgerüstet.
Moskau bleibt das Zentrum der Epidemie trotz zunehmender Infektionen in den Regionen. Zwei Prozent der Stadtbevölkerung, vermutete Sobjanin, könnten infiziert sein. Das wären 250.000 Menschen, mehr, als die offizielle Statistik verrät.
Angeblich soll sich die Pandemie jedoch nicht mehr ausbreiten. Der Anstieg spiegele nur die Zunahme von Tests, sagt Alexander Ginzburg, Epidemiologe vom Moskauer Gamaleja-Zentrum. In den letzten Tagen seien deren Anzahl verdoppelt worden. Bis vor Kurzem galten russische Tests als wenig verlässlich. Trotz Infektion wurde bei einer Reihe von Testläufen die Hälfte der Probanden als gesund eingestuft.
Premierminister Michail Mischustin gehörte nicht dazu. Vergangene Woche meldete er sich beim Präsidenten krank. Auch Bauminister Wladimir Jakuschew wurde zum Coronafall, ebenso sein Vize. Sie alle sind im Krankenhaus. Mit den Wünschen einer schnellen Genesung warnte der Präsident: „Jeden kann es treffen.“
Stundenlanges Warten vor Kliniken
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Moskau alles im Griff. Krankenwagen mit Infizierten mussten aber manchmal vor den Kliniken in der Hauptstadt und Sankt Petersburg stundenlang warten. Bei steigenden Zahlen könnte das häufiger werden, befürchten Angestellte aus dem Gesundheitswesen im Netz. Meist bleiben sie anonym – aus Angst vor Konsequenzen.
Erst kürzlich rügte Dmitri Peskow, Putins Pressechef, die Zunft, weil sie Forderungen öffentlich machte. Schon bei Schutzkleidung, Masken und Handschuhen käme es zu Engpässen, klagen viele. Haltet euch an die örtlichen Gesundheitsämter, riet Peskow. Doch diese verwalten oft nur den Mangel.
Meist sind es Privatpersonen oder Aktivistinnen wie Anastasia Wassiljewa von der Ärzteallianz, die auf eigene Faust Mangelware auftreiben, Geld sammeln und Lieferungen auch in der Provinz verteilen. Häufig versuchen Ordnungshüter sie daran zu hindern, als täten sie etwas Unerlaubtes. Dutzende Hilferufe von Mitarbeitern im Gesundheitswesen gehen bei Aktivisten ein.
Der Kreml möchte keine Schwäche zeigen. Hilfe von außen benötigt er nicht, zumindest vermittelt er dieses Bild. Präsident Putin macht jedoch einen etwas entrückten Eindruck, als müsse er sich notgedrungen mit dieser Malaise befassen.
Unfreiwilliges Praktikum für Studierende
Tatsächlich sind seit Tagen mehr als 600 Studenten der medizinischen Hochschulen als „Freiwillige“ im Einsatz. Die angehenden Ärzte aus den höheren Semestern werden händeringend gesucht. Sobjanin verkaufte dies als Möglichkeit, Praxiserfahrungen zu sammeln.
Genauer besehen handele es sich dabei jedoch um kein freiwilliges Praktikum, gesteht ein Student. Der Einsatz werde erwartet. „Wer Angst hat, in einer Infektionsabteilung zu arbeiten, und sich drückt, muss zusehen, wie er ohne das plötzlich zur Pflicht erklärte Praktikum im Studium weiterkommt“, berichtet die 22-jährige Tatjana.
Die meisten Studenten arbeiten in der „roten Zone“, in der Covid-19-Infizierte untergebracht sind. 40 Minuten dauere es, wenn jemand austreten müsse, meint einer der Assistenzärzte. Den Schutzanzug auszuziehen, sei umständlich. Viele würden sich daher bei längeren Schichten für Windeln entscheiden, meint der Mediziner Andrei Atroschtchenko.
Dass die Helfer mit umgerechnet 1.200 Euro im Monat gut bezahlt werden, scheint unterdessen ein Gerücht zu sein. Kein Student wollte das bisher bestätigen. Solche Gehälter stehen gewöhnlich erst voll ausgebildeten Ärzten zu.
Positive Opferbereitschaft
„Kommt es auf die Höhe des Geldes an?“, fragt Daria Belimowa, die das „Freiwilligenprogramm“ beim Gesundheitsministerium koordiniert. „Machen wir es nicht, wer macht es dann?“ Schließlich sei Opferbereitschaft auch eine positive Eigenschaft des Landes, sagt sie.
Laut Zeitung Wedomosti entließ Moskau zwischen 2013 und 2019 mehr als die Hälfte der Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Unter die „Reformmaßnahme“ fielen vor allem Pfleger und Krankenschwestern.
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