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Foto: Christian Thiel

Coronahotspot SachsenTod mit Abstand

Um Görlitz sind schon fast 800 Menschen an dem Virus gestorben. Was bedeuten Bestattung und Trauer in einer Zeit, in der der Tod zur Routine wird?

I n der Kapelle auf dem Friedhof Görlitz-Rauschwalde brennen 34 Kerzen. Sie säumen eine weinrote in einen Blumenkranz eingefasste Urne. Von dem golden eingerahm­ten Foto lächelt die Frau, die an diesem Tag aus dem Leben verabschiedet wird. Ein E-Piano steht abgedeckt auf einer Empore, gespielt wird heute nicht. Jede weitere Person, die sich in dem Raum aufhält, könnte eine zu viel sein. Deshalb Instrumentalversionen bekannter Lieder aus einem Rekorder: „Imagine“ von John Lennon oder „Every Breath You Take“ von The Police.

Die Tochter der Verstorben tritt an die Urne, weint, berührt das kalte Aschegefäß sanft mit der Hand. Um Punkt elf Uhr läutet die Glocke. Acht weitere Angehörige kommen in die Kapelle, nehmen auf den Bänken zur Urne gewandt Platz, ihre Gesichter mit Masken bedeckt und immer eine Bank zwischen ihnen, die frei bleibt. Manche nehmen die Maske ab, um mit einem Taschentuch ihre Tränen auffangen zu können. Zuvor haben sie alle am Eingang mit Kugelschreibern, auf denen das Logo des Bestattungsinstitutes aufgedruckt ist, ihre Kontaktdaten eingetragen und die Hände desinfiziert. Obwohl sie eine Familie sind. Zur Sicherheit.

Die Musik wird leiser, ein Moment der Stille. Trauerredner Tom Hohlfeld, schwarzer Anzug, dicke Ringe an seinen Fingern, die blonden Haare zum Knoten am Hinterkopf gebunden, nimmt seine FFP2-Maske ab und steckt sie in sein Revers. Er begrüßt die wenigen Anwesenden und ergänzt: „Wie hätte sie sich über die unzähligen Menschen gefreut, die gerade zwar nicht hier, aber in Gedanken bei ihr sind.“

Hohlfeld erzählt vom reichen Leben der 1933 geborenen Verstorben, von Familienurlauben, schweren und schönen Zeiten. Davon, dass die Lehrerin aus Oschatz nur ungern Schwarz trug, nachdem sie in den 1960er Jahren drei aufeinanderfolgende Todesfälle im Verwandtenkreis erleiden musste. Ihre Angehörigen tragen an dem Tag ihrer Beisetzung bunte Kleidung.

Am Ende der Rede erheben sie sich, reihen sich hinter Redner und Bestatterin, die die Urne tragen. Der Trauerzug bewegt sich in Richtung Grabstätte. Vor der Kapelle warten weitere Weg­be­glei­te­r:in­nen der Verstorbenen, die sich den Angehörigen anschließen. Im Abstand und mit Maske. Am Grab wird noch einmal innegehalten, Musik gespielt. Einige letzte Worte werden ­gesprochen, bevor die Asche in die Erde gelassen wird.

Nur zehn Menschen dürfen gemeinsam trauern

Es ist eigentlich eine ganz normale Beerdigung. Die Traurigkeit, der Schmerz, die Erinnerung und die Liebe, die man fühlt, wenn man einen nahestehenden Menschen beerdigt, all diese Emotionen sind spürbar. Was fehlt, sind die Berührungen. Die Beileidsbekundungen, das gemeinschaftliche Abschiednehmen. Nur zehn Menschen dürfen derzeit an einer Beisetzung teilnehmen. Manchmal, sagt Hohlfeld, kommen jetzt sogar weniger als zehn. Viel haben Furcht, sich anzustecken.

Der sächsische Landkreis Görlitz ist eine der Regionen, die von der Coronapandemie am härtesten getroffen wurden. Die 7-Tage-Inzidenz lag zwischenzeitlich bei 667,1 – ein trauriger Spitzenplatz. Ende Januar 2021 ist der Wert auf unter 150 gesunken. 14.034 Infektionen und 777 (Stand 2.1.21) Todesfälle in Verbindung mit dem Coronavirus zählt der Landkreis seit März 2020.

Fragt man Menschen, die in Görlitz und Umgebung leben, gibt es kaum jemanden, der:­die niemanden kennt, der:­die an Corona erkrankt oder gar verstorben ist. In der schlimmsten Phase der Pandemie druckten die Wochenblätter bis zu sechs Seiten an Todesanzeigen.

Aber was macht es mit einer Region, wenn das Sterben so sehr zum Alltag wird? Und was bedeutet das für diejenigen, zu deren Aufgaben es gehört, den Tod zu verwalten, zu besprechen und zu begleiten?

Mittendrin in dieser Zeit, in der die Meldungen von überlasteten Krankenhäusern und überfüllten Krematorien die Runde machen, ist Antje Kruse. Zu Beginn der zweiten Welle der Pandemie, im September 2020, übernahm die Pfarrerin die Seelsorge am Klinikum in Görlitz.

Heute steht sie auf einem kleinen Hügel mit Blick auf das Klinikum und zerbröselt nachdenklich die Eisreste auf der grünen Parkbank in ihren von Handschuhen gewärmten Händen. Sie hat sich Zettel geschrieben, um nicht zu vergessen, was sie wichtig findet. Auf einem hat sie ein Luther-Zitat notiert: „Wenn Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu wehren.“

Kruse ist eine lebhafte Frau, begegnet Menschen offenherzig und freundlich. Läuft sie durch die hellen Klinikumsgänge, dann grüßt sie jede:n, egal ob Patient:in, Sicherheitspersonal, Kran­ken­pfle­ge­r:in oder Ärzt:in.

„Es ist schwer, wenn Menschen sich nicht voneinander verabschieden können“, sagt Kruse. Für Sterbende und für deren Angehörige. Sie ist dann für jene da, die mit sich und ihrer Krankheit allein in einem Klinikzimmer liegen, umgeben von milchigen Wänden und dem Geruch von Desinfektionsmitteln. Kruse tröstet über diese Einsamkeit hinweg, redet mit den Menschen über ihre Ängste, über Fragen und Wünsche.

Für Kruse sind Grundfragen eines jeden Menschen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich und wozu bin ich da? Und wie soll ich handeln? Fragen, die sich alle Menschen stellen, egal welchen Glaubens, sagt sie.

Seelsorge im Schutzanzug

Wenn sie auf einer Coronastation unterwegs ist, dann meist im weißen Schutzanzug, mit Maske und Handschuhen. Die Schutzmaßnahmen schaffen eine Distanz, die in der Seelsorge hinderlich sein kann. Doch die Gefahr, sich anzustecken, ist zu groß, um Menschen ungeschützt begegnen zu können. Oftmals seien auf diesen Stationen das Leben, das Atmen und das Durchkommen Thema – aber auch die Angst vor dem Tod.

Wenn Kruse nachdenkt, schaut sie in den Himmel. Spricht man sie darauf an, sagt sie lachend: „Aber mit beiden Beinen fest auf dem Boden.“ Kruse ist hoffnungsvoll, aber auch Realistin. „Menschen sterben. Das gehört zum Leben“, sagt sie.

Schon 1969 schrieb die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross von fünf Phasen des Sterbens: dem Leugnen, dem Zorn, dem Verhandeln, der Depression sowie der Annahme. Zu dem Modell gehört auch die Erkenntnis: Sterbende sind immer auch Trauernde.

Kruse begleitet sie in ihrer Trauer, auch wenn es manchmal einfach nur bedeutet, noch mal ein Glas Rotwein mit jemandem zu trinken, der weiß, dass es sein letztes sein wird. Seelsorge, so sagt Kruse, sei eine Kernaufgabe der Kirche und müsse auch in Not möglich sein.

Die Arbeit mit den Angehörigen Sterbender und dem Klinikpersonal habe in den letzten Monaten stark zugenommen. Erschöpft, ja, das sei sie schon gewesen, sagt Kruse. Im März 2020, „weil keiner wusste, wie das Virus uns angreifen wird, und als es noch nicht genug Schutzausrüstungen gab.“ Eine Bischöfin rief sie an und fragte, wie es ihr gehe. Für Kruse ein bewegender Moment. Sie war dankbar für diese vermeintlich so simple Frage. „Der fürsorgliche Blick tat gut.“

Bei Menschen, deren Angehörige sterben, steht oftmals das „Warum?“ im Vordergrund, insbesondere wenn der Tod unerwartet kommt. So wie es in der Pandemie jetzt ist, wo es Hunderte gibt, die sich plötzlich infizieren und binnen wenigen Tagen sterben. Kruse betont, dass es ihre Aufgabe sei, diese Not mit auszuhalten. Auszuhalten, dass es oftmals keine Antwort auf das Warum gibt.

Der Prozess der Trauer ist eng verbunden mit dem Abschiednehmen. Wer schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat, weiß: Abschied nehmen braucht Zeit. Es braucht Raum, den Schmerz zuzulassen. Und es braucht Menschen, mit denen gemeinsam man trauern kann.

Der überlastete Bestatter

Auch Tobias Krostack sagt, wie wichtig das Abschiednehmen sei. Er arbeitet als Friedhofsmitarbeiter und Bestatter, auch in der nahe gelegenen Kleinstadt Zittau. Im Dezember betrug die 7-Tage-Inzidenz hier zeitweise mehr als 800. Krematorium, Pflegeheime, Behörden – sie alle waren maßlos überlastet.

Krostack ist einer derjenigen, die die Verstorbenen aus Krankenhäusern, Pflegeheimen oder von zu Hause abholen und ins Krematorium fahren. Im Dezember, so sagt er, waren es viermal so viele Sterbefälle wie sonst. 95 Menschen sind alleine in Zittau an Covid-19 gestorben.

Ein von Urnengräbern gesäumter Weg führt auf einen Hügel, auf dem der steinerne Turm mit einer Adlerstatue steht, im Hintergrund sieht man den Schornstein des Verbrennungsofens. Zwei Bestattungswagen parken in der Einfahrt des Krematoriums, ein Amtsarzt fährt gerade davon. Wenn ein Mensch stirbt, stellt ein Arzt bzw. eine Ärztin einen Totenschein aus. Soll seine Leiche verbrannt werden, muss ein:e zwei­te:r den Tod noch einmal bestätigen.

Krostack erzählt von den Tagen, an denen er sich fünf Stunden Schlaf herbeigesehnt hat. An denen das Telefon auch nachts klingelte, weil so viele Menschen starben. Sechzig Stunden die Woche arbeitete er da, um überhaupt irgendwie hinterherzukommen. Einfach sagen, dass man nicht kommt, wenn jemand gestorben ist – das sei keine Option, sagt der Bestatter. An seiner linken Augenbraue trägt Krostack ein Piercing. Früher war er Musiker, danach jobbte er aushilfsweise auf dem Friedhof. Heute sagt er, Bestatter sein, das sei seine Berufung.

Ob das durch die Pandemie schwieriger geworden sei? Krostack nickt. Der Umgang mit dem Tod und der Vergänglichkeit bleibe gleich, aber die Masse an Toten sei es, die es anstrengend mache. „Man hat für eine Trauerfeier nur einen Versuch“, sagt er. Wegen der Pandemie sei der Anspruch, jedes Begräbnis individuell zu gestalten, kaum zu erfüllen. „Es ist ein Unterschied, ob man kurz vor Feierabend weiß, man muss noch acht Sterbefälle holen oder nur zwei.“

Leichen im Plastiksack

Wenn ein Mensch an oder mit Covid-19 stirbt, dann wird seine Leiche in einen Plastiksack gesteckt und dieser fest verschlossen. Erst dann kann der Sack in einen Sarg gelegt werden. Kein Bestatter darf ihn dann wieder öffnen. Normalerweise werden Verstorbene ein letztes Mal bekleidet, geschminkt, es wird ihnen ein Blumenstrauß in die Hand gelegt. Es ist dies ein letzter Akt der Würdigung und Wertschätzung eines Menschen, den das Leben verlassen hat. Und ein wichtiges Ritual im Abschiedsprozess für die Hinterbliebenen, am offenen Sarg noch ein letztes Mal zu dem Verstorbenen sprechen zu können.

Heute sei hier fast jeder Sarg mit einem kleinen „Corona“-Gekritzel markiert, sagt Krostack. Die Abschiedsräume in den Kliniken sind geschlossen, an die Leichen kommt niemand mehr heran. Blumen werden, wenn überhaupt, auf den Plastiksack gelegt. Es ist ein einsames Sterben.

Der Tod ist in Deutschland ein Tabuthema. Kaum jemand spricht mit seinen Verwandten da­rüber, dass auch ihr Leben irgendwann zu Ende gehen wird. Für die Trauerbewältigung kann das ein Problem sein. Denn in Zeiten von Corona wird der Tod so allgegenwärtig, dass Verdrängung kaum die richtige Strategie sein kann. Bei vielen Menschen wächst das Bedürfnis, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, erzählen jene, die damit täglich betraut sind.

Trauerredner Tom Hohlfeld hat daher auf der neuen digitalen Plattform „Clubhouse“ einen Raum eingerichtet: „Gedanken zwischen Tod und Leben“. Zunächst nur aus Neugier – und weil er zunehmend Anrufe von Hinterbliebenen bekommen habe, die mit ihm über den Tod sprechen wollten. Zeitweise diskutierten mehr als 80 Menschen im Alter von 13 bis 66 Jahren über das Sterben.

Nach der Beisetzung auf dem Rauschwalder Friedhof läuft Hohlfeld durch das schneebedeckte Feld, um den Kopf freizubekommen. Jede Beisetzung – oder wie er sagt „Übergangszeremonie“ – beschäftigt ihn. Er sagt, die Tendenz zu weltlichen Reden steige: Reden, in denen es weniger um Gott und mehr um die verstorbene Person gehe. Bis zu zehn Reden hält er normalerweise im Monat, das ist eigentlich seine Grenze. Doch momentan sind es zwanzig.

Hohlfeld hat Kommunikationspsychologie und Soziologie studiert – seine Gespräche mit den Angehörigen, so sagt er selbst, wirken psychohygienisch. „Wenn die Angehörigen anfangen, über die Geschichten zu reden, taut der emotionale Permafrost“, sagt Hohlfeld. Umso wichtiger ist das Gespräch vor und nach der Bestattung.

Trauerreden über Zoom

Im Moment finden einige dieser Gespräche nur noch über Zoom statt. Die Rede wird manchmal sogar als Audioaufnahme abgespielt und nicht von Hohlfeld vor Ort gehalten – um Platz für eine weitere trauernde Person zu schaffen. Eigentlich findet er es gut, die Reden aufzunehmen und an Angehörige zu schicken – auch als Ritual für jene, die nicht bei der Trauerfeier dabei sein können. Die Digitalisierung der Trauer und die dadurch entstehende Distanz bringt aber auch mit sich, dass die Menschen weniger Emotionen zulassen.

Hohlfeld erlebt, dass die Zahl der Suizide von Se­nio­r:in­nen durch die Pandemie stark zugenommen hat – aus Einsamkeit, weil sie keine Besuche von Angehörigen mehr empfangen dürfen. Auch bei den Angehörigen jener, die in einem Krankenhaus verstorben sind und die sie aufgrund der Coronabestimmungen vorher nicht mehr sehen durften, gebe es „riesigen Klärungsbedarf“, so Hohlfeld.

Viele Familien wiederum, die ei­nen vom Virus Infizierten verloren haben, machen sich Vorwürfe. Es gebe Menschen, die vor ihm sitzen, weinend, voller Schuldgefühle und sagten: „Ich habe meine Mutter getötet.“ Es ist das, was die Psychologin Verena Kast als Phase zwei des Trauerns bezeichnet: die Suche nach der Schuld, die Frage nach dem Warum.

Fragt man Trauerredner Hohlfeld, Pfarrerin Kruse und Bestatter Krostack, ob unsere Gesellschaft einen neuen Umgang mit dem Sterben braucht, sagen alle drei, dass der Tod zu stark tabuisiert ist und zu wenig darüber gesprochen wird. Trauern sei ein notwendiger Prozess, um von einem verstorbenen Menschen Abschied nehmen zu können. „Trauern ist die natürliche Reaktion auf einen Verlust.“, sagt Kruse. Man müsse es bewusst als kraftzehrendes Tun annehmen. Mit „Mut zur Trauer.“

In der Schnelligkeit einer Pandemie, in der Särge massenweise aufgestapelt und die Toten zu Zahlen im System werden, sei es umso wichtiger, dem Schmerz einen kollektiven Raum zu geben. Für Pfarrerin Kruse kann die Klinikkapelle einen solchen Ort zumindest temporär bieten. Sie sagt jedoch auch, dass es Rituale brauche, um das Trauern begleiten, um Angst reduzieren und Halt geben zu können. Für die Zeit, in der Treffen wieder möglich sind, plant sie Andachten für alle Menschen, die sich nicht von ihren Lieben verabschieden konnten, und Angebote für das Klinikpersonal, die in der besonderen Zeit Enormes geleistet haben.

Kruse hat die Hoffnung, dass die Erfahrungen der Pandemie etwas bewegen. „Dass wir anders über unsere Endlichkeit nachdenken, bewusster und wertschätzender mit uns und anderen umgehen“, sagt sie. „Zu einem bewussten Leben gehört auch ein bewusstes Sterben.“ Sie hofft auch, dass diejenigen, die um das Leben kämpfen und das Sterben begleiten, künftig mehr Anerkennung erhalten.

Bestatter Krostack wünscht sich, dass die Gesellschaft nach der Pandemie enger zusammenrückt. Und dass die Menschen lernen, mit ihrer Vergänglichkeit im Reinen zu sein. Für ihn ist sein Arbeitsplatz ein guter Ort, um sich des Lebens im Einklang mit dem Tod bewusst zu werden, ohne dabei das Leiden in den Fokus zu stellen. Ein Park, wie er es beschreibt, in dem im Sommer die Eichhörnchen von Baum zu Baum springen. Der Friedhof als Ort der Begegnung für Trauernde – und für Lebende.

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