Corona und Pflege in Berlin: Kalayci soll schneller handeln
Die Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus fordert flächendeckende Verbesserungen für die Pflegebranche. Klatschen allein reiche nicht.
„Die Senatsverwaltung ist gefordert, Muster-Pandemiepläne und verbindliche Vorgaben auf Basis der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für die ambulante und stationäre Pflege zu erstellen“, heißt es in dem Papier. Die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Fatoş Topaç, die mit der Senatorin im Gesundheitssausschuss sitzt, mahnt die Umsetzung eines umfassenden Plans in der Verwaltung des Koalitionspartners an. Sie sagt: „Es heißt, Kalayci plant eine eigene Strategie für die Pflege. Das ist erfreulich. Jetzt muss die Verwaltung dafür ein Finanzierungskonzept vorlegen.“
Dass Papier lässt nun erahnen, dass es den Grünen offenbar nicht schnell genug geht. So seien zum Schutz von Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, und zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen und Pflegekräften gleich eine Reihe von Maßnahmen erforderlich.
Viele Pflegekräfte arbeiten derzeit noch unter unzureichenden Schutzbedingungen, wie es aus der Branche heißt – noch immer fehle es in Einrichtungen an Schutzkleidung. Zudem soll vielen Bewohner:innen die anhaltende Einsamkeit während der Pandemie zunehmend zu schaffen machen. Seit Anfang Mai sind Besuchsregelungen zwar etwas gelockert, es heißt in der Branche allerdings, dass sich viele Einrichtungen aus Angst nicht daran hielten.
Einsamkeit und fehlendes Wlan
So wollen die Grünen erreichen, dass Einrichtungen sich auch tatsächlich an gelockerte Besuchsregelungen halten. „Wir sind beim Thema Einsamkeit nach wie vor nicht gut aufgestellt“, sagt Topaç, „wir haben die Besuchsregelungen zwar auf eine Person pro Tag gelockert, jetzt müssen die Einrichtungen aber auch dabei unterstützt werden, das möglich zu machen.“ Zum Infektionsschutz solle die Gesundheitsverwaltung dafür sorgen, dass Einrichtungen Schwerpunkt-Testungen durchführten. Bei denen sollten sich nach Ansicht der Grünen zudem Besucher:innen und pflegende Angehörige testen können – auf freiwilliger Basis.
Ebenso brauche es ein Konzept, um Menschen in Pflegeeinrichtungen digitale Kommunikation zu ermöglichen: „Entgegen der Behauptung von Kalayci haben nicht einmal alle Einrichtungen Wlan. Die Gesundheitsverwaltung muss dafür sorgen, dass sie es bekommen und den Häusern Tablets zur Verfügung stellen, um soziale Kontakte zu pflegen“, sagt Topaç. Ebenso soll laut Papier ein Plan erarbeitet werden, wie eine künftige Tracing-App für Pflegebedürftige und deren Angehörige genutzt werden könne.
Zudem sei es wichtig, Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, mehr bei sie betreffenden Entscheidungen einzubeziehen, wie es in dem Papier heißt. Dabei solle eine „Kosten-Nutzen-Abwägung“ getroffen werden zwischen den Polen „Infektionsschutz“ und „sozialer Isolation“. Für die Wahrnehmung der Interessen von Beschäftigten und der Branche wollen die Grünen zudem die Gründung einer Berliner Pflegekammer voranbringen.
Darüber hinaus wollen die Grünen Geld aus der Pflegeversicherung bereit stellen, um so etwa nachbarschaftliche Hilfe finanzieren zu können. Weiterhin sollen pflegende Angehörige unterstützt werden, indem sie ebenfalls getestet werden und Desinfektionsmittel und Schutzkleidung erhalten.
Gesamtlage in der Pflege schlecht
Auch an anderer Stelle gäbe es noch erheblichen Verbesserungsbedarf – etwa bei der Schutzausrüstung für ambulante Dienste, die häusliche Pflege durchführten. Bei einem Covid19-Ausbruch in einer Einrichtung in Lichtenberg hatte ein ambulanter Träger das Virus in die Einrichtung getragen. Topac sagt dazu: „Wir hatten bisher Glück, dass es in Berlin vergleichsweise glimpflich verläuft. Es gab vergleichsweise wenig Ausbrüche in Pflegeheimen.“ Dort, aber auch bei pflegenden Angehörigen müsse die Verwaltung von Kalayci Abhilfe schaffen und bei der Besorgung von Materialien unterstützen, so Topaç.
Über die kurzfristigen und landespolitischen Forderungen hinaus, fordern die Grünen auf lange Sicht flächendeckende Verbesserungen für die Pflegebranche. Eine in Berlin vor allem vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) promotete einmalige Corona-Prämie für Pflegekräfte von 1.000 bis 1.500 Euro darf laut den Grünen nur der Anfang für „strukturelle Verbesserungen für die Beschäftigten sein“. Wohlfahrtsverbände und freie Träger hatten zudem kritisiert, dass die Prämie in Berlin nur für Beschäftigte in öffentlichen Einrichtungen ausgezahlt werden solle.
Die Grünen wollen laut ihrem Papier die Attraktivität des Pflegeberufs durch „Arbeitsflexibilisierung, gute Kinderbetreuungskonzepte, angemessene Bezahlung und flächendeckende Tarifverträge mit einem deutlich angehobenen Einstiegsgehalt“ verbessern. Erforderlich wären ebenso „Arbeitsschutz und Entlastung“ – also das „Wiedereinsetzen von Personaluntergrenzen“ sowie Infektionsschutz durch systematische Teststrategien.
„Pflege hat mehr verdient als Applaus und einen Bonus“, heißt es in dem Papier. Man müsse die aktuelle Aufmerksamkeit für die Schaffung von fairen Arbeitsbedingungen und für bessere Bezahlung nutzen.
Pflege schon immer unterbezahlt
Nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie fordern viele Pflegekräfte eine bessere Bezahlung und verbesserte Arbeitsbedingungen. Allerdings drangen diese Forderungen mit der Corona-Pandemie weiter durch, als Menschen plötzlich anfingen, auf Ihren Balkons die Arbeit von Altenpfleger:innen zu beklatschen. Denn diese müssen trotz aller Kontaktbeschränkungen das System weiter am Laufen halten und setzen sich damit weiterhin einem erhöhtem Gesundheitsrisiko aus.
Bei vielen dieser sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen sticht ins Auge, dass es häufig genau die Berufe sind, die besonders schlecht bezahlt sind. Neben Supermarkt-Kassierer:innen und selbstständigen Paket-Ausliefer:innen betraf das auch immer wieder die Pflege.
Altenpfleger:innen forderten angesichts dessen nachhaltige Verbesserungen für Arbeitsbedingungen statt heuchlerischem Balkon-Applaus – Forderungen, die es übrigens angesichts eines eklatanten Fachkräftemangels in dieser Branche schon seit Jahren gibt. Besonders in der Altenpflege fehlt es an richtig ausgebildeten Arbeitskräften. 80 Prozent der Aufgaben übernehmen oftmals Pflegehelfer:innen, die in einer 200-Stunden-Schulung die gröbsten Dinge des Berufs gelernt haben und dann auf den Markt geschmissen werden. Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert drei Jahre – natürlich sind diese als Arbeitskräfte dann auch teurer.
Damit wäre man dann auch schon bei einem weiteren Problem der Branche. Viele Träger sind private Ketten, die vor allem die Profitinteressen ihrer Investoren und Aktionäre in den Vordergrund stellen. Das Ergebnis sind mit aller Regelmäßigkeit wiederkehrende Berichte über schlimme Zustände in Pflegeeinrichtungen, in denen alte Menschen schlecht versorgt sind. Selbst die Wohlfahrtsverbände nutzen ihre Profite um andere Bereiche quer zu finanzieren, wie Experten sagen. Ein weiteres Problem in der Pflegebranche ist der niedrige gewerkschaftliche Organisierungsgrad von nur fünf Prozent bundesweit.
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