Corona und Geschlechterrollen: Ein Drahtseilakt

Was macht die Pandemie mit den Geschlechterrollen? Traditionelle Vorstellungen gewinnen an Gewicht.

Illustration: Frau balanciert auf einem Seil

Mit und ohne Pandemie ist das Leben mit Kindern ein Drahtseilakt – vor allem für Frauen Foto: Ikon Images/imago

„Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung weiter erfahren. Ich glaube nicht, dass man das so einfach wieder aufholen kann, und dass wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte verlieren“, echauffierte sich Jutta Allmendinger im letzten Jahr in der Talkshow „Anne Will“. Aber stimmt das wirklich?

Katapultiert uns die Pandemie wieder zurück in die 1980er oder gar 1950er Jahre? Die kurze Antwort lautet: Nein, natürlich nicht. Die kritische Situation von Familien verdient dennoch besondere Aufmerksamkeit. Deshalb jetzt auch eine ausführliche Antwort.

Retraditionalisierung meint das Wiedererstarken einer familiären Rollenteilung, bei der Männer für den Broterwerb und Frauen für Kinder und Küche zuständig sind. Im Zuge der Coronapandemie, so die These, gibt es nun ein Rollback in diese Geschlechterrollen.

Diese These geht jedoch von drei Annahmen aus: 1. Vor der Pandemie gab es in Familien eine (zumindest annähernde) Gleichverteilung der Aufgaben. 2. In der Pandemie haben vor allem die Frauen verstärkt familiäre Sorgetätigkeiten übernommen. 3. Diese neue, alte Rollenverteilung wird nach dem Ende der Pandemie bestehen bleiben. Von diesen Annahmen wird lediglich die zweite durch Studien gestützt. Die erste Annahme kann leicht widerlegt werden, die dritte ist weitgehend haltlos.

Wirkmächtige Rollenmuster

Der Blick in die Zeit vor der Pandemie zeigt, wie wirkmächtig die alten Rollenmuster sind: Nach wie vor sind es fast immer die Frauen, die nach der Geburt eines Kindes in Elternzeit gehen, auch wenn sie gut ausgebildet sind. Auch erbringen Frauen weiterhin den Löwenanteil der Hausarbeit und verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern als Männer. Bei Müttern mit Kleinkindern waren es 2019 ca. 6,5 Stunden am Tag; bei Vätern 2,8 Stunden.

Aber es ist auch viel geschehen. Die Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit hat sich in den vergangenen Jahren angeglichen. Immer mehr Mütter sind erwerbstätig; immer mehr Männer mit Kindern beteiligen sich an der Sorgearbeit. Ein entscheidender Faktor für die Verwirklichung beruflicher Pläne von Müttern ist der massive Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Ausweitung der Ganztagsbetreuung in Schulen. In Ostdeutschland schon lange etabliert, ist die umfassende Kindertagesbetreuung für die westdeutschen Bundesländer ein Quantensprung. Kitas sind zu einem verlässlichen und wichtigen Baustein im Betreuungsarrangement von Eltern geworden.

Die große Bedeutung der institutionellen Betreuung von Kindern führt unmittelbar zu den Ursachen der besonderen Belastung von Müttern (aber auch von Vätern) während der Coronapandemie, denn dieser Baustein löste sich von einem auf den anderen Tag in Luft auf.

Wie ein Kartenhaus zusammengefallen

Mit den Schließungen von Kitas und Schulen im März 2020 fiel das sorgfältig errichtete Betreuungsgebäude für viele Familien wie ein Kartenhaus zusammen. Väter und Mütter mussten – neben ihrer Erwerbsarbeit – auch tagsüber für ihre Kinder da sein. In dieser Situation entschieden sich die meisten Paare für das Naheliegende: Es kümmerte sich derjenige um die Kinder, der weniger zum Familieneinkommen beiträgt. Und das war meistens die Mutter, und zwar umso eindeutiger, je jünger das jüngste Kind war.

Die bereits vor der Pandemie etablierte Arbeitsteilung hat sich in der Schließungsphase fortgesetzt. Bei 84 Prozent der Familien war die Mutter Hauptansprechpartnerin beim Fernlernen. Psychische Belastung und Stressempfinden nahmen insbesondere bei Frauen zu. Sie mussten die angestiegene Zeit für Kinderbetreuung mit deutlichen Abstrichen nicht nur bei der eigenen Erwerbsarbeit, sondern auch in den Lebensbereichen Schlaf und Freizeit kompensieren. Besonders stark litten Familien mit geringem Einkommen und Ein-Eltern-Familien. Gerade bei Paaren mit einer zuvor egalitären Rollenteilung haben Frauen den überwiegenden Teil oder die gesamte Verantwortung für Kinder und Haushalt übernommen. Diese Befunde verdeutlichen, dass Mütter besonders unter den Belastungen der Pandemie leiden und in besonderem Maße geschlechtsstereotype Aufgabenbereiche übernehmen. Zugespitzt formuliert: Während der Pandemie haben tradi­tionelle Geschlechterrollen wieder an Bedeutung gewonnen.

Nichts deutet jedoch darauf hin, dass sich die Aufgabenteilung während der Coronapandemie auch danach fortsetzen wird. Wir erleben derzeit eine ungeahnte Krise. Die Bundeskanzlerin sprach von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Um die Krise und ihre Folgen für den Alltag zu bewältigen, sind viele Menschen in einen Notfallmodus gewechselt. Sobald aber Kitas und Schulen wieder in den Normalbetrieb übergehen, spricht wenig dafür, dass dieser familiäre Notfallmodus beibehalten wird. Denn davon würde niemand profitieren. Sowohl Mütter als auch Väter haben unter der Potenzierung der Mehrfachbelastung gelitten. Einen deutlichen Hinweis auf den drängenden Wunsch von Eltern, nach der Pandemie zu den gewohnten Aufgabenverteilungen zurückzukehren, gibt auch die derzeitige Situation in Kitas und Schulen: Dort, wo kein Regelunterricht und keine Regelbetreuung stattfand, liefen die sogenannten Notbetreuungen über.

Die Rede von einer langfristigen Retraditionalisierung ist deshalb eine Übertreibung. Aber die Erfahrung zeigt, dass es manchmal der Übertreibung bedarf, um auf Missstände und Gefahren aufmerksam zu machen. Der tatsächliche Missstand ist jedoch ein anderer: Für Kinder zu sorgen erhöht für viele Menschen – Männer wie Frauen – die Gefahr, in Existenznot zu geraten. Die Coronapandemie macht besonders deutlich, dass das Leben mit Kindern ein Drahtseilakt ist. Frauen sind oftmals diejenigen, die sich dabei am meisten verrenken müssen – mit und ohne Pandemie.

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