piwik no script img

Corona in der TürkeiOpposition fordert Total-Lockdown

Ankara hat das Vertrauen in die Coronamaßnahmen verspielt. Laut Ärzten liegt die Zahl der Neuinfektionen deutlich höher als angegeben.

Oppositionsführer fordert kompletten Lockdown für 14 Tage in der Türkei Foto: STR/ap

Istanbul taz | „Wir brauchen einen kompletten Lockdown für 14 Tage“, forderte der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu am Wochenende. Das war, nachdem er die neue Vorsitzende der türkischen Ärztekammer, Şebnem Korur Fincancı, getroffen hatte.

Wie andere Expert*innen auch schlägt Fincancı Alarm. Nach Zählung der Ärztekammer gibt es in der Türkei derzeit rund 50.000 Coronaneuinfektionen pro Tag. Das wäre momentan der höchste Wert in ganz Europa. „Wir können so nicht weitermachen“, ist Kılıçdaroğlu deshalb überzeugt, „wir müssen stärker reagieren.“

Vor einer Woche hatte die Regierung nach langem Zögern einen Teil-Lockdown beschlossen. Seitdem sind in der Türkei wieder alle Schulen, Universitäten, Restaurants, Cafés und Sportstudios geschlossen. Über 65-Jährige müssen zu Hause bleiben und auch Jugendliche unter 18 Jahren dürfen nur noch zwischen 10 und 15 Uhr das Haus verlassen.

Doch die Maßnahmen zeigen wenig Wirkung. Die Zahlen steigen weiter. Als am Wochenende in Istanbul nach einigen Regentagen die Sonne wieder schien, war die Promenade am Marmarameer voll. Die meisten achteten nicht auf Abstand; viele ließen ihre Maske am Kinn baumeln.

Fast zwei Monate lang, von Ende September bis Ende November, hatte die Regierung die Menschen über die Anzahl der Neuinfektionen im Unklaren gelassen. Sie gab lediglich bekannt, wie viele Menschen durch das Virus täglich „ernsthaft erkrankten“. Das pendelte zwischen 2.000 und 3.000 Menschen und erschien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr niedrig. Auch die Todeszahlen blieben mit offiziell rund 100 pro Tag niedrig.

Der Druck stieg

Als aber plötzlich die Zahl der „Erkrankten“ auf täglich 6.000 und mehr hochschnellte und mehrere Bürgermeister von oppositionsregierten Städten meldeten, man müsse die offiziellen Zahlen mindestens mit zehn multiplizieren, um auf eine realistische Zahl von Neuinfektionen zu kommen, gab die Regierung dem Druck von Experten und der WHO nach. Nun meldet sie wieder die registrierten Neuinfektionen pro Tag.

Wir können so nicht weitermachen, wir müssen reagieren

Kemal Kılıçdaroğlu, Oppositionsführer

Nach offiziellen Angaben stiegen diese in den letzten Tagen auf knapp 30.000 pro Tag. Doch das Vertrauen in die Angaben ist verspielt. Kaum jemand glaubt noch, was Gesundheitsminister Fahrettin Koca verkündet. Die Ärztekammer geht von rund 20.000 täglichen Neuinfektionen mehr aus. Dasselbe gilt für die Todesfälle durch Covid-19. Die Regierung gab etwa für letzten Sonntag 180 an, während der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu erklärte, allein in Istanbul gebe es mehr als 160 Todesfälle pro Tag.

Auch wenn die Metropolen wie Istanbul, Izmir, Ankara und Bursa am stärksten betroffen sind, schwappt die zweite Coronawelle durch das ganze Land. Anders als im Frühjahr ist so gut wie jedes Dorf, sowie auch die Mittelmeer- und Ägäisregion betroffen, die von der Bundesregierung bis zum 9. November noch als Nichtrisikogebiet eingestuft wurde. Entsprechend hoch dürften die tatsächlichen Todesfälle landesweit sein.

Hochzeitsfeiern gehen weiter

Trotz Krankenhausneubauten stößt das öffentliche Gesundheitssystem an seine Grenzen. In Istanbul sind die Intensivbetten weitgehend belegt. Trotzdem nehmen viele Menschen aufgrund der Verharmlosung durch die Regierung die Gefahr noch nicht ernst. Nach wie vor finden große Hochzeitsfeiern statt.

Auch deshalb fordert die Opposition den Total-Lockdown. „Istanbul steht sonst vor der Katastrophe“, sagt İmamoğlu. Die Regierung versucht derweil zu beruhigen: Eine erste Lieferung eines Impfstoffes aus China sei bereits auf dem Weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Lockdown für 14 Tage

    Bei den horrenden Zahlen, wird den Türken wohl auch nichts anderes übrig bleiben.



    Die Frage ist, ob ein 14-tägiger totaler Lockdown nicht auch wirtschaftlich viel besser ist, als die ganze Zeit mit angezogener Handbremse über Monate zu fahren.



    Das war Thema bei Anne Will.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Gleiches hier. Ständig plärrt "die Wirtschaft", dass es ihr an den Kragen ginge. Nunja, wenn diese Plüschlockdowns so weiter gehen, dann kommt irgendwann der ganz große Knall. Und ja. *dann* ist sie im Eimer. Könnte man verhindern. Noch.