Corona in Vietnam: Musterknabe wird zum Problemfall
Lange kam Vietnam glimpflich durch die Pandemie. Nun steigt die Zahl der Infizierten. In Hanoi und im Südens wurde ein strenger Lockdown verhängt.
Auch Todesfälle im Zusammenhang mit Corona nehmen seit einer Woche deutlich zu. Während die Pandemielage in der südlichen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt – mit neun Millionen Einwohnern die größte Stadt im Land – außer Kontrolle geraten ist, habe man sie in Hanoi nach Angaben des Stadtoberhaupts Chu Ngoc Anh noch „im Griff“.
Vietnam entwickelt sich vom Musterknaben in der Bewältigung der Coronapandemie zum Problemfall. Das 96-Millionen-Einwohner-Land ist bisher glimpflich durch die Pandemie gekommen. Dreimal war das Land mehrere Monate völlig coronafrei. Während viele europäische Länder unter einem Lockdown standen, wurde in Vietnam gearbeitet und gefeiert.
Länger als ein Jahr hatte Vietnam erfolgreich auf Prävention gesetzt und seine Stärken ausgespielt: eine disziplinierte Bevölkerung, die Anweisungen der Behörden widerspruchslos folgt und gegen Coronaauflagen nicht vor Gerichten klagen kann. Die Maskenpflicht war nicht gewöhnungsbedürftig, trägt man doch dort als Schutz vor Abgasen seit Jahren Masken.
Drei Wochen Quarantäne
Dazu die Abschottung: Seit dem Frühjahr 2020 ist die Einreise nur sehr wenigen Menschen gestattet. Diese müssen drei Wochen Quarantäne in staatlichen Isoliereinrichtungen absitzen. Gab es Infektionsfälle, wurden ganze Gemeinden oder Straßenzüge von der Außenwelt abgeriegelt. Nach Kontaktpersonen wurde öffentlich gefahndet. Schulen und Universitäten blieben trotz geringer Infektionszahlen über Monate geschlossen.
Kontaktpersonen von Infizierten werden bis zum vierten Grad isoliert, wobei Infizierte und deren Kontakte ersten Grades diese Zeit in speziellen staatlichen Einrichtungen verbringen müssen. Als autoritär regierter Staat hat es Vietnam leichter als Demokratien, in die Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen. Wer sich nicht an die Regeln hält, riskiert hohe Haftstrafen – so wie unlängst ein Flugbegleiter. Er hatte seine Quarantäne nicht vollständig abgesessen.
Doch in einer globalisierten Welt hat die Null-Covid-Strategie der Regierung Grenzen, seit die besonders ansteckende Deltavariante in vielen südostasiatischen Nachbarstaaten wütet. Es ist nicht mehr möglich, so viele Infizierte und ihre Kontaktpersonen in staatlichen Einrichtungen zu isolieren oder eine Millionenstadt abzuriegeln.
Die inzwischen hoffnungslos überfüllten Unterkünfte haben sich längst selbst zu Hotspots der Übertragung entwickelt. Jetzt rächen sich die zahlreichen Mängel des Gesundheitssystem, wo katastrophale hygienische Bedingungen herrschen. Film- und Fotoaufnahmen in Krankenhäusern und Isoliereinrichtungen sind seit einigen Tagen streng verboten. Ein Video, das an diesem Mittwoch dennoch ins Internet gelangte, zeigt Menschen, die dicht an dicht auf den Gängen schlafen.
Noch kein eigenes Vakzin
Betriebe mit infizierten Mitarbeitern mussten die Produktion einstellen. Dort, wo der Lockdown gilt, wurden die Betriebe angewiesen, die Beschäftigten in der Fabrik übernachten zu lassen oder ebenfalls zu schließen. Da es in Vietnam keine Sozialhilfe gibt, die Lohnverluste auffängt, sind die sozialen Auswirkungen für die Bevölkerung enorm.
In Vietnam sind nach offiziellen Angaben erst 4 Millionen Bürger einmal geimpft, wenige Hundert zweimal. Experten melden Zweifel an, ob bis zum Jahresende eine Herdenimmunität realistisch ist, die die Regierung anstrebt.
Das Land hatte lange Zeit auf die Entwicklung eines eigenen Vakzins gesetzt, dieses steckt aber noch in der Testphase. Es ist nach Regierungsangaben unklar, ob der Impfstoff noch 2021 zur Verfügung steht. Sollte das der Fall sein, braucht Vietnam für die Produktion Unterstützung von der WHO. In den letzten Wochen hat das Land Verträge über den Ankauf von 124 Millionen Impfdosen verschiedener Hersteller unterzeichnet. Hanoi muss sich aber hinter Staaten einreihen, die früher bestellt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär
Trumps Wiederwahl
1933 lässt grüßen