Corona-Maßnahmen in Deutschland: Immer noch ein Flickenteppich
In Deutschland erreicht die Zahl der Neuinfizierten einen neuen Höchstwert. Die Bundeskanzlerin bittet die Bürger, zuhause zu bleiben.
Ausgerechnet das Beherbergungsverbot, die Maßnahme, über die Kanzlerin Angela Merkel mit den Länderchefs am heftigsten gestritten hatte, haben die Gerichte zum Ende der vergangenen Woche in einer Reihe von Bundesländern einkassiert: In Baden-Württemberg, Brandenburg und Niedersachsen kippten Gerichte die Verbote mit der Begründung, ein Unterbringungsverbot für Touristen aus Risikogebieten stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte dar. Bayern und Hessen kippten daraufhin von selbst das Verbot. In Schleswig-Holstein entschied ein Gericht, das dortige Beherbergungsverbot sei rechtmäßig.
Ein ähnliches Durcheinander herrscht bei Sperrstunden: Allein in Niedersachsen gehen die Behörden völlig unterschiedlich vor. In Regionen mit besonders hohen Zahlen an Neuinfektionen wie das Oldenburger Münsterland, Vechta und Cloppenburg gilt ab 23 Uhr eine Sperrstunde. In anderen Landkreisen mit ähnlich hohen Werten gibt es solche Maßnahmen nicht. In Berlin wiederum kippte am Freitag das Berliner Verwaltungsgericht die 23-Uhr-Sperrstunde. Es gab elf Gastwirten recht, die gegen die Sperrstunde geklagt hatten. Die Aufhebung der Sperrstunde gilt jetzt zunächst aber nur für jene Wirte, die Klage eingereicht hatten.
Dabei wären klare Regeln zur Eindämmung der stark zunehmenden Zahlen derzeit wichtiger denn je. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Sonntag innerhalb eines Tages mehr als 5.580 neue Infektionsfälle. Für einen Sonntag ist das ein neuer Höchstwert. An Sonn- und Montagen sind die erfassten Fallzahlen meistens niedriger, weil am Wochenende nicht alle Gesundheitsämter Daten an das RKI übermitteln. Am Samstag lag die Zahl bei 7.830, zum dritten Mal in Folge ein Höchstwert.
Gemeldete und tatsächliche Zahlen
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Zahl der registrierten Neuinfektionen bereits ab Mittwoch die Marke von 10.000 Fällen am Tag übersteigen. Falls die bislang beschlossenen Maßnahmen keine Wirkung erzielen, dürften es Ende des Monats gar über 20.000 registrierte Neuinfizierte am Tag geben.
In den kommenden zehn Tagen wird die Pandemie-Kurve so oder so exponentiell und praktisch ungebremst nach oben schnellen. Denn die gemeldeten Zahlen hinken den tatsächlichen Zahlen hinterher. Selbst wenn es in den vergangenen Tagen ein Umdenken in der Bevölkerung gegeben haben sollte und die Menschen rigoros Masken tragen und Abstand halten, wird man den Effekt erst in knapp zwei Wochen in der Statistik sehen.
Eben weil sich Bund und Länder nicht auf einheitliche – und ginge es nach Angela Merkel – auch strengere Maßnahmen einigen konnten, wandte sich die Bundeskanzlerin am Samstag in ihrem wöchentlichen Podcast geradezu flehentlich an die Bürger. „Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause.“ Es komme nun zentral darauf an, die Kontaktpersonen jedes infizierten Menschen zu benachrichtigen, um Ansteckungsketten zu unterbrechen. „Wie der Winter wird, wie unser Weihnachten wird, das entscheidet sich in diesen kommenden Tagen und Wochen.“
Schon jetzt sind in einigen Regionen die Gesundheitsämter überlastet. Bei rund 90 Prozent sei die Quelle der Neuinfizierten nicht mehr eindeutig festzustellen, bestätigte Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). Im besonders betroffenen Berliner Bezirk Neukölln spricht Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) von einem „absoluten Krisenmodus“. Die Zahl der Krankenhausaufnahmen bei Menschen mit Covid-19 steige bereits.
Neuer Lockdown?
Einen Lockdown vergleichbar mit dem im Frühjahr will die Bundesregierung aber ebenfalls vermeiden. Das Bundesfinanzministerium geht bereits jetzt davon aus, dass die Bewältigung der Coronavirus-Krise die öffentlichen Kassen fast 1,5 Billionen Euro kosten wird.
SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach schließt zumindest „lokale Shutdowns“ nicht aus. Wenn es nicht gelinge, das exponentielle Wachstum zu bremsen, „steigen die täglichen Fallzahlen innerhalb kürzester Zeit so stark an, dass die Kliniken und Gesundheitsämter überlaufen werden“, sagte er der Funke Mediengruppe, und appellierte an die Vernunft aller. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnte in der Bild am Sonntag: Wer zögere, riskiere einen zweiten Lockdown. „Nie waren Umsicht, Vorsicht und Solidarität so wichtig wie jetzt“, sagte Söder.
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