Corona-Lähmung in Berlin: Szenen wie in Nordkorea
Am Berliner Alexanderplatz ist eigentlich immer Trubel. Jetzt verirrt sich kaum jemand noch hierher. Der Grund: Der Kapitalismus liegt im Koma.
Der Alexanderplatz ist immer eine Enttäuschung. Dieser in der Weltliteratur verewigte Ort wird – zu normalen Zeiten – an 364 Tagen im Jahr vermüllt von Markt- und Rummelbuden und dem sonstigen Dreck, den Passanten so wegwerfen. Die Kulisse aus trutzigen Gebäuden ist nur dank des luftigen Fernsehturms und der ikonischen Weltzeituhr erträglich; die Geschäfte werden von gesichtslosen (Klamotten-)Ketten betrieben. Es ist ein gänzlich unsinniger Ort.
Das wird vielen vielleicht aber erst in Zeiten wie diesen deutlich, da der Alexanderplatz dank der Coronakrise zur reinen steinernen Kulisse geworden ist. Die vielen Passanten? Weg. Die Geschäfte? Geschlossen. Der Müll? Vom Winde verweht. Nur Fernsehturm und Weltzeituhr stehen noch in der Gegend rum.
Zugegeben, das ist übertrieben. Natürlich laufen auch an diesem Donnerstagmittag einzelne Menschen über den Platz. Aber sie sind nicht hier, weil sie wirklich hier sein wollen, weil sie einkaufen wollen oder etwas essen. Sie sind hier, weil sie schnell woandershin müssen und der Platz ihnen im Weg ist. Diese vereinzelten Personen verstärken tatsächlich den Eindruck der Leere: Weil man weiß, der Ort ist nicht etwa gesperrt. Man kennt das von den Simulationen der Architekten, in die Menschen als bloße Dekoration hineinkopiert werden. Oder von den Fotos aus Nordkorea.
Schuld sind natürlich die entsprechenden Notverordnungen des rot-rot-grünen Senats, die seit Montag den Aufenthalt im Freien höchstens noch zu zweit gestatten und die Schließung der meisten Geschäfte und seit Montag auch der Frisöre vorsehen. Und natürlich ist der Alexanderplatz nicht der einzige verlassene Ort: Auch am Brandenburger Tor stehen keine Touristen mehr und machen Selfies, obwohl das jetzt ganz ohne Retusche das perfekte Foto ergeben würde: ich (und du) und niemand sonst.
Hinter den Kulissen ist das Bild am Alex noch trister. Kaufhof hat nur einen seiner drei Eingänge geöffnet, hier geht es in die Lebensmittelabteilung. Drinnen ist der Zugang zum Rest des Kaufhauses – zur Kleider-, Sport- und Spielwarenabteilung – brutal mit Bauzäunen versperrt. Die Schoko-Osterhasen gibt es jetzt schon zum halben Preis, und es laufen wohl genauso viele MitarbeiterInnen wie KundInnen durchs Geschäft. „Heute sind es noch viele“, meint eine Verkäuferin.
Wie immer geht es im Shoppingparadies noch schlimmer. Die Alexa, pinkfarbenes Mall-Ungetüm am Rand des Platzes, wirkt wie ausgehöhlt. Weil drinnen noch Apotheke, Confiserie und Supermarkt offen haben, kann man durch die mit Charttrash beschallten Gänge ziehen, vorbei an dunklen Ladenfronten, die zwar verkünden: „Wir sind weiter für Sie da“, aber auf das Internet verweisen. Kaum jemand verirrt sich hierher. Ein Konsumtempel ohne Gläubige, ohne Zweck.
In einem Reisebüro hängen noch Angebote für Kreuzfahrten Ende April. Offensichtlich ist das Geschäft in aller Hektik geschlossen worden – oder in der Hoffnung, schnell wieder aufmachen zu können.
Draußen, auf dem Alexanderplatz, fallen jetzt die Obdachlosen stärker auf. An den Ecken stehen sie, sitzen sie, warten sie. Spenden gibt es kaum noch. „Wo soll ich sonst hin?“, meint einer. Auch die Tauben sind noch da, sie fliegen in Scharen von einer Seite zur anderen und zurück.
Und die Trams schleichen im Minutentakt über den Platz, drin sitzt kaum einer. Ihr schnarrendes Geräusch bildet, zusammen mit den bremsenden S-Bahnen vom nahen Bahnhof den Soundtrack zur Tristesse.
Das Verbot von Treffen mit mehr als zwei Personen ist hier übrigens kein Thema: Die einzigen Menschen, die auf dem Platz zu dritt herumstehen (und auch ein bisschen näher als die erlaubten 1,5 Meter Entfernung), sind die Polizisten vor der mobilen Wache. Beim Rauchen.
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