Corona-Hotspot Neukölln: „Die Party ist vorbei“
Sperrstunde und noch strengere Kontaktbeschränkungen für Privatfeiern sind beschlossen. Ein Interview mit Falko Liecke, Gesundheitsstadtrat von Neukölln.
taz: Herr Liecke, Neukölln liegt in Sachen Fallzahlen deutlich vor den anderen Bezirken. Können Sie das erklären?
Falko Liecke: Jein. Es gibt ein paar Ansätze: Zum einen gab es seit Mitte September sieben große Hochzeiten. Da sind wir immer noch dabei, die Fallermittlung und die Nachverfolgung in den Griff zu bekommen. Wir haben aber auch einen Rückstau in der Bearbeitung, der dann zu so einem Anstieg wie von Montag auf Dienstag führen kann.
Wie entsteht dieser Rückstau?
Die Infektionsketten sind extrem kompliziert. Da müssen wir erst einmal rausbekommen, wo ein Fall herkommt, wer alles Kontakt hatte. Das ist schon schwierig genug, weil die Besucher dieser Feiern zum Teil nicht gerade die Auskunftsfreudigsten sind, um es mal nett zu formulieren. Auch die Veranstalter kommen zum Teil ihren Aufzeichnungspflichten nicht nach. Und bei der Nachverfolgung sind dann nach einer einzelnen Feier gleich mal acht Schulen und zwei Kitas betroffen. Da müssen wir dann großflächig in Quarantäne schicken.
Solche großen Feiern sind ja bereits seit dem 3. Oktober nicht mehr erlaubt.
Das ist auch in Ordnung so. Aber das ist auch nicht der einzige Grund für die vielen Fälle. Es gibt Fälle in Sportvereinen, auf Arbeitsstellen, von Privatfeierlichkeiten und immer wieder aus der Kneipenszene.
Aber diese Partys, das gab es doch alles im Sommer auch. Sind das jetzt Reiserückkehrer, die Infektionen verbreiten?
Das kann gut sein. Das hing ja letztlich vom Reiseweg ab, ob jemand nachverfolgbar war. Wenn Sie mit dem Auto aus einem Risikogebiet zurückgekommen sind, hatten Sie zwar die Verpflichtung, sich selber zu melden. Aber das konnte doch niemand kontrollieren. Da sind uns sicher viele durch die Lappen gegangen. Das heißt, das aktuelle Infektionsgeschehen könnte noch Nachwehen sein. Und jetzt kurz vor den Herbstferien stehen wir wieder vor dem gleichen Problem.
Jetzt hat der Senat eine Sperrstunde und noch strengere Kontaktbeschränkungen für Privatfeiern beschlossen. Reicht das?
Der wichtigste Strang sind Kontrollen, Kontrollen, Kontrollen. Ich weiß, dass die Polizei derzeit extrem belastet ist und auf Schwerpunkte fährt. Da muss sie unterstützt und verstärkt werden. Entweder aus der Bundespolizei oder vom Zoll oder, was ich mir auch vorstellen könnte: Dass wir uns von anderen Bundesländern, die gerade nicht so betroffen sind, Kräfte ausborgen, um gerade an den Wochenenden an den Hotspots massive Kontrollen zu machen. Das muss sichtbar sein, das muss spürbar sein. Zur Not muss man den Laden auch mal 14 Tage zumachen. Das hat dann eine Wirkung.
Also den Wirt bestrafen?
Wobei ich die Schuld da nicht komplett auf dem Wirt abladen will. Die sind gebeutelt genug, ich weiß das. Es sind eben häufig auch die Gäste, denen alles scheißegal ist. Gerade die brauchen die Ansage: Die Party, wie Ihr sie hier veranstaltet, ist vorbei, das geht jetzt gerade nicht.
In manchen Regionen Deutschlands gilt Ihr Bezirk neben anderen nun als Risikogebiet mit entsprechenden Reisebeschränkungen.
Das ist doch grober Unfug. So etwas funktioniert in einer Großstadt überhaupt nicht. Es funktioniert schon nicht in Neukölln. Da ist die Lage in Britz und Rudow eine ganz andere als in Nordneukölln. Ich glaube nicht, dass solche Bewertungen wirksame Maßnahmen sind.
Sie haben eingangs von einem Rückstau in der Fallbearbeitung und der Nachverfolgung gesprochen.
Unsere Corona-Warn-Ampel steht tatsächlich schon auf Schwarz, das kommt nach Rot. Das liegt daran, dass wir bei uns im Bezirk nicht nur die Fallzahlen betrachten, sondern auch die Bearbeitung der Fälle. Wenn wir in einer Woche mehr als 50 Fälle pro 100.000 Einwohner und einen Bearbeitungsrückstand von 4 oder mehr Fällen über 2 Tage haben, dann springt die Ampel auf Schwarz.
Wie wollen Sie das verbessern?
Wir entwickeln gerade mit Blick auf Schulen pauschalere Pläne, wie wir bei einem positiven Fall möglichst schnell die Kontaktpersonen aus dem Geschehen bekommen, um die Weiterverbreitung zu verhindern. Der zweite Punkt ist natürlich die Aufstockung des Personals. Wir sind ja, glaube ich, der einzige Bezirk mit 27 Bundeswehrsoldaten …
Weil das andere Bezirke grundsätzlich ablehnen.
Die bekommen da einen Würgereiz, ich weiß. Aber ich finde das gut, die helfen uns zum Beispiel bei der Quarantäne-Hotline. Wir werden darüber hinaus 26 zusätzliche befristete Stellen schaffen in der Kontaktnachverfolgung, Verwaltung und mit zwei Ärzten. Auch zwei Kollegen vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen dürfen wir vorerst behalten. Wir haben außerdem fast 50 Kollegen aus anderen Verwaltungsbereichen akquiriert, die uns bis März unterstützen. Jetzt werden langsam die Arbeitsplätze knapp. Da suchen wir derzeit mit Hochdruck nach Räumen.
Wie ist Ihr Blick in die Zukunft?
Zukunft heißt erst einmal November, Dezember, die kalte Jahreszeit. Wir versuchen wieder vor die Lage zu kommen, statt hinterherzuhecheln. Das kostet unheimlich viel Kraft von allen Beteiligten. Meine Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen so günstig wie möglich zu gestalten für die, die die eigentliche Arbeit machen müssen. Unser oberstes Ziel ist es, da sind wir uns, glaube ich, alle in Berlin einig, einen weiteren Lockdown zu verhindern. Da müssen wir im Zweifel auch so drastische Maßnahmen wie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit wieder ins Auge fassen.
Ausgerechnet die Versammlungsfreiheit? Die Beschränkung stand schon zu Beginn der Pandemie hart in der Kritik.
Das bindet aber unheimlich viel Kräfte, die wir für die Durchführung der Kontrollen brauchen. Wir haben jetzt höhere Zahlen als zu Anfang der Pandemie und wir gehen nicht so konsequent damit um. So schwer das fällt, Lebensbereiche wieder hart einzuschränken, aber ich möchte nicht die Schulen und Kitas schließen. Nicht in Berlin, wo Homeschooling eh nicht funktioniert.
Wie weit ist Ihre derzeitige Arbeit von dem entfernt, was man sonst so als Bezirkspolitiker macht?
Also ums mal drastisch zu sagen: Das, was vor Corona war, war Kindergeburtstag. Ich bin jetzt seit 11 Jahren dabei, der dienstälteste Stadtrat in Neukölln. Aber so eine Situation in der Dauer mit der Belastung, das habe ich nicht mal ansatzweise erlebt. Was mich dabei wirklich bedrückt, ist die Tatsache, dass die Strukturen, die wir hier über viele Jahren aufgebaut haben – Prävention, Ersthausbesuch aller Neugeborenen, Begrüßungsstrategie für Familien – außer dem Kinderschutz liegt das alles brach. Das System hat im Moment echt Schlagseite, weil wir im Kern nur mit der Pandemie beschäftigt sind. Das ist das eigentliche Drama.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott