Comiczeichner Ralf König über sein Frühwerk: "Ich steh auf ausgewachsen"
Anfangs war der Comiczeichner Ralf König nur im schwulen Underground ein Star. Ein Gespräch über seine heute irritierenden frühen Arbeiten.
taz: Herr König, wir haben bei Recherchen zum Thema Pädosexualität in der taz - einer der taz-Gründer war pädosexuell - im Archiv einen Ihrer Comics gefunden, der 1980 als Vorabdruck in unserer Zeitung erschienen ist. Heute ist dieses Frühwerk vergriffen, man kommt gar nicht mehr so einfach daran.
Ralf König: Zum Glück! Das muss aus "Schwulcomix 1" gewesen sein, das waren wirklich meine ersten Striche.
Der Comic prangert die Strafverfolgung eines Mannes an, der einen Jungen - genauer: einen Teenager - zum Oralsex animiert hat. Das hätten wir Ihnen nicht zugetraut.
Das klingt auch nicht nach mir. Wenn mir heute diese alten Sachen zum Signieren vorgelegt werden, dann laufe ich immer rot an. Ich finde meine Anfänge ziemlich fürchterlich. Aber den genauen Inhalt dieser Geschichte weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr. Das ist dreißig Jahre her.
Haben Sie denn Ihren ersten Comicband nicht mehr?
Nein, mir waren diese alten Sachen irgendwann so peinlich, dass ich die entsorgt habe. Ich hoffte, dass andere die dann auch nicht mehr sehen.
Als Sie das gezeichnet haben, waren Sie neunzehn Jahre alt, ein junger Tischler mit Hauptschulabschluss, der in dem westfälischen Dorf Westönnen bei seinen Eltern lebte. Wie kamen Sie auf diese Geschichte?
Comics habe ich schon als Kind gezeichnet, irgendwann fing ich dann an, mein Coming-out mit meinen Zeichnungen zu begleiten. Meine ersten Comics erschienen in so linken Schwulen-Zeitungen - Rosa Flieder vor allem. Damals wurde so ziemlich alles sofort gedruckt, Hauptsache es war irgendwie schwul. Es gab einen großen Hunger nach Öffentlichkeit und Leuten, die Texte schreiben. Im Rosa-Winkel-Verlag habe ich dann das erste Heft gemacht - und da war wohl dieser Comic drin, der noch nicht mal lustig sein sollte.
Aber warum ein so pädofreundlicher Inhalt?
Das Thema lag in der Luft damals. Ich hab das gezeichnet, weil ich zu der Zeit zu jedem Quatsch meinen Senf dazugab. Was sicherlich mit reinspielte: Vorher war der Film "Die Konsequenz" im Fernsehen gelaufen.
Ein Film über einen Schauspieler, der sich im Gefängnis in den 16-jährigen Sohn des Gefängnisaufsehers verliebt.
Ein sehr trüber, dramatischer Film von Wolfgang Petersen. Damals war der ein Riesenskandal, weil er das Thema Homosexualität ins Fernsehen brachte. Es gab ja nur drei Programme und dann hat sich der Bayerische Rundfunk auch noch geweigert, das zu senden. Ich lebte noch auf dem Dorf. Ich war allein, ich wusste, dass ich schwul bin, hatte aber noch mit niemandem darüber geredet. Ich hatte ein eigenes Zimmer und einen kleinen Fernseher - und da habe ich mir den Film angeguckt. Das war ein erschütterndes Schlüsselerlebnis.
Dieses Interview mit Comiczeichner Ralf König erscheint zusammen mit vielen anderen spannenden Geschichten in der sonntaz vom 16./17. April 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
Warum?
Die zwei Botschaften waren: Ich bin nicht allein. Und: Schwulsein ist ein großes Drama. Der Film war ja so eine Tragödie! Der 16-jährige Sohn des Gefängnisaufsehers war am Ende ein gebrochener Junge, der überhaupt nicht mehr mit der Welt und sich klarkam. Und es gab damals ja wirklich überhaupt keine positiven oder heiteren Vorbilder für mich, es gab nur ein Signal: Schwulsein ist tragisch. In dem Film ging es - genau wie später in meinem Comic - um eine unglückliche Liebe zwischen einem erwachsenen Mann und einem Teenager. Der Junge im Comic hatte sogar auch so lange Haare und so einen Pony wie im Film.
Wir haben unter Kollegen diskutiert: Wie ist Ihr Comic eigentlich gemeint?
Tja-ha - das frage ich mich nach dreißig Jahren auch. Zu welchem Schluss seid ihr gekommen?
Wir waren uns nicht einig. Das ist ja heute alles ein hoch vermintes Terrain.
Ja, aber damals, Ende der siebziger Jahre, war es das nicht. Man verurteilte nicht so schnell und es war vieles nicht bekannt, die ganzen Missbrauchsfälle, man wusste nichts von den Dimensionen, egal ob schwul oder nicht. Im Kino lief "Schulmädchen-Report", das gäbe es heute auch nicht mehr.
Damals gab es noch den Paragrafen 175 - das Schutzalter für schwule Geschlechtsakte lag bei 18, das für lesbische und heterosexuelle bei 14. Heute würden die meisten Leute die Handlung Ihres Comics vermutlich als sexuellen Missbrauch werten.
Möglich, ja.
Und damals: Haben Sie sich darin vielleicht an Ihrer eigenen Jugend abgearbeitet? Waren Sie selbst mal verliebt in ältere Männer?
Ich hatte zumindest nie pädosexuelle Neigungen, ich steh auf ausgewachsen, haarig und stämmig. Das war schon damals so. Ich weiß, dass ich als Pubertierender schon erwachsene Männer geil fand, nicht unbedingt gleichaltrige Jungs. Wenn man in der Pubertät ist, pulsiert die Libido. Ich hätte es bestimmt aufregend und spannend gefunden, wenn ich jemanden gehabt hätte, mit dem ich manches hätte ausprobieren können.
Und wie sehen Sie das heute?
Die damalige Behauptung bestimmter Gruppen, dass Kinder und Jugendliche auch Sex mit Erwachsenen haben könnten und das sei unproblematisch, die ist natürlich falsch und fatal. Ältere Männer haben keine Berechtigung, sich an Pubertierende heranzumachen. Ich weiß auch gar nicht, was das damals mit mir gemacht hätte, wenn es mir passiert wäre: Was hätte der anrichten können? Das ist hochsensibles Terrain, klar. Aber damals wurde ja noch ganz vieles in einen Topf geworfen. Man forderte nach rechts und nach links Freiheit und Emanzipation und sexuelle Verwirklichung. Und ich habe mir bei diesem Comic vermutlich einfach gar nichts gedacht. Ich habe gehört, dass es gefordert wird, und diesen Film gesehen und hab was dazu gezeichnet.
Wie sah denn Ende der siebziger Jahre schwules Leben in Westönnen aus?
Da war gar nichts. Da gabs nur einen älteren Mann, der immer in der Kneipe saß und vor sich hin trank. Wenn einer von uns Jungs pinkeln ging, konnte man die Uhr danach stellen, dass er hinterherkommt. Der hat einen nicht angepackt, auch nicht angelabert. Der stellte sich nur neben die Pinkelrinne und schielte herüber. Wir fanden das nicht mal eklig. Ein tragischer Typ. Wir haben uns ein bisschen über den lustig gemacht.
Wie alt waren Sie da?
Zwölf, dreizehn. Mein Bild vom Schwulsein war deshalb sehr, sehr negativ.
Sie haben später Kontakt zu einer Schwulengruppe in Dortmund aufgenommen. Was haben Sie da vorgefunden?
Das Schwulenzentrum war in einem Vorort von Dortmund im Hinterhof, ein ehemaliger Fischladen, gelb gekachelt, der eigentlich abgerissen werden sollte. Da trafen sich langhaarige Gestalten aus allen Ecken der Gegend und stellten fest, dass sie nicht alleine sind. Ein Fortschritt, denn die Zeiten vorher waren ja noch schlimmer.
Inwiefern?
Wer in den Sechzigern wagte, eine Schwulenkneipe aufzumachen, der musste Razzien ertragen. Die Kneipen wurden sofort von der Sittenpolizei geschlossen. Dann kam die Liberalisierung, das Schwulenzentrum war für uns ein großer Energieschub, es wurde gefeiert ohne Ende, wir hatten sehr viel Spaß. Da gabs Kulturprogramm, Theatergruppen, Feten. Ich stellte fest: Schwulsein kann ja total Spaß machen, ich muss gar nicht dramatisch vor die Hunde gehen! Da war Befreiung in der Luft, ein Nicht-mehr-Schämen. Zu den Diskussionen kam auch mal ein Transsexueller, den fand ich befremdlich. Ich war vom Dorf und hatte noch nicht so viel gesehen. Dann saß da dieser große Mann im Kleid mit Perücke, tiefer Stimme und Bartschatten und erzählte von seinen Problemen: Dass er sich im falschen Körper fühlte, umoperieren lassen will. Auch das hatte mit "schwul" im Grunde nichts zu tun.
Gab es dort - wie in anderen Schwulenzentren - auch eine Pädosexuellengruppe?
Eine Pädogruppe habe ich in Dortmund nie gesehen. Aber es gab auswärts Pädogruppen, und ich erinnere mich, dass die eher nervten. Das waren Leute, die wohl aus Nürnberg kamen.
Sie meinen die Nürnberger Indianerkommune, die sich für straffreien Sex zwischen Erwachsenen und Kindern einsetzte?
Ich erinnere mich dunkel: Die waren selbst eher jung. Wenn über irgendwas Schwulenpolitisches diskutiert wurde, dann dauerte es nicht lange, bis zwei oder drei von denen auf die Bühne kamen, die Rechte von Kindern und Jugendlichen einforderten und die Veranstaltung sprengten. Damals lag das Schutzalter für Schwule ja noch bei achtzehn Jahren. Und so schwamm da vieles in einem großen Eintopf mit. Da wurde hier und da was gefordert und nicht genau differenziert. Ob Schwule und Pädos womöglich gar nicht dieselben Ziele verfolgen, darüber wurde nicht viel nachgedacht.
War sexueller Missbrauch für Sie damals ein Thema?
Nein. Ich war selbst nur neugierig, ich wollte Sex haben - und zwar jetzt und sofort. Nach einer Pubertät und Jugend des Verheimlichens. Aber war das nicht bei den Heteros das Gleiche? Ich erinnere mich dunkel an den Film "Bilitis" von David Hamilton - da sah man sehr junge Mädchen, die Zärtlichkeiten austauschten. Oder den Film "Zärtliche Cousinen", kann man den nicht auch in dem Zusammenhang sehen? In der Zeit war es noch ein Tabu, über sexuellen Missbrauch zu sprechen und wie oft und massiv das vorkommt, in den Familien, Heimen, überall. Das durfte es wahrscheinlich nicht geben.
Erinnern Sie sich an die Debatten im Schwulenzentrum?
Wir haben in Dortmund allen Ernstes diskutiert und abgestimmt, ob man erst mal alle küssen muss, wenn man den Laden betritt. Das war damals fast Pflicht, man küsste halt erst mal jeden, ob man ihn gut kannte oder nicht. Dann stellte jemand den Antrag: Können wir damit aufhören? Am Ende wurde beschlossen, dass man nur noch den küssen müsse, den man wirklich küssen wolle.
Was ist heute der korrekte Umgang mit Pädosexuellen?
So wie es jetzt gesetzlich geregelt ist, ist das ganz richtig: Sex von Erwachsenen mit Kindern steht unter Strafe und es gibt gestaffelte Schutzaltergrenzen. Selbst wenn man den großen Schwung holt und erwähnt, dass die Griechen mit Knabenliebe ganz anders umgegangen sind und dass einiges an unserer Sexualmoral sehr katholisch ist - man muss in einer Gesellschaft eine Grenze finden und sagen: Hier beginnt das Schutzalter!
Finden Sie die aktuelle Missbrauchsdebatte hysterisch?
Nee, ich finde die eigentlich angemessen. Es war doch gut, dass die Presse richtig draufgehauen hat, als die Missstände bei den Pfarrern aufgeflogen sind. Wenn Missbrauch stattfindet und Kinder und Jugendliche ihr Leben lang darunter leiden, was ihnen jemand angetan hat, ist es richtig, dass das öffentlich intensiv diskutiert wird.
Pädosexuelle durften sich jahrelang in Schwulenzentren treffen. Schwulenmagazine informierten Pädosexuelle, wann und wo sie Gleichgesinnte finden konnten. Gibt es da für die Schwulenbewegung nicht auch was aufzuarbeiten?
Das glaube ich nicht. Für die Schwulen ist das Thema einfach vorbei. Wer ist denn jetzt noch aktiv von den alten Hasen, die damals die Schwulengruppen gegründet haben? Die haben sich alle längst ins Private zurückgezogen oder sind gestorben.
Gibt es überhaupt noch eine Schwulenbewegung?
Das habe ich mich schon vor zwanzig Jahren gefragt, wie politisch das Ganze ist. Andererseits gab es in den Achtzigern einen starken selbstbewussten Zusammenhalt, als Aids aufkam. Ich sehe in den Großstädten eine Infrastruktur, die für sich läuft. Es gibt hier in Köln kein wirkliches Schwulenzentrum mehr. Gut, es gibt das Anyway, eine Anlaufstelle für junge Schwule und Lesben. Und in Berlin das SchwuZ. Aber wird da noch politisch diskutiert? Da werden eher Partys gefeiert. Die Zeiten haben sich geändert. Früher musstest du mit Herzklopfen in eine fremde Stadt fahren und an einer Tür klingeln, wo dich ein Türsteher musterte. Was das für einen Mut brauchte. Heute gibt es das Internet und es ist zum Glück leichter, Kontakte zu finden.
Ist der Kampf der Schwulen für Gleichberechtigung gewonnen?
Ich sehe da seltsam getrennte Entwicklungen. Einerseits dieses Wowereit-Westerwelle-Phänomen: Immer mehr Leute sagen öffentlich, dass sie schwul sind und es interessiert eigentlich keinen. Das ist eine sehr liberale und erfreuliche Strömung. Andererseits ist vieles davon nur eine Fußgängerzonenfreiheit. So nenne ich das. In größeren Städten wie Köln, Berlin, Hamburg kann man mit seinem Freund Arm in Arm durch die Innenstadt laufen und es stört keinen. Aber schon auf der anderen Rheinseite in Köln-Kalk würde ich das nicht mehr machen.
Und wie lebt es sich im Jahr 2011 in Westönnen?
Da möchte ich heute auch nicht zwölf sein und merken, dass ich schwul bin. Das ist dann vielleicht nicht mehr so, dass alle aus allen Wolken fallen, wenn man sein Coming-out hat. Aber normal ist es sicher auch nicht.
Wissen Sie, was auf der Website von Westönnen über Sie als Dorfberühmtheit steht?
Nein, was steht denn da?
Da steht: "Seine Klassenkameraden erinnern sich noch gerne an ihren Mitschüler, immerhin hatte er ja zu der Zeit noch nicht sein ,Coming-out' erlebt, was insbesondere seine weiblichen Klassenkameradinnen zu berichten wissen."
Was? Ich habe mein "Coming-out erlebt"? Das steht da wirklich? Unlängst hatte ich ein Klassentreffen und habe nach dreißig Jahren die Leute aus meiner Hauptschule wiedergesehen. Was natürlich aus bekannten Gründen erschütternd bis erheiternd war. Die Jungs, die ich damals sexy fand, waren jetzt vollständig auseinandergegangen. Die Frauen hatten sich generell viel besser gehalten. Ich kam herein, Margaret kam mir entgegen, ich rief laut: mein erster Zungenkuss. Alle lachten. Nur sie war etwas konsterniert.
Sie hatten als Schüler also erst mal Freundinnen?
So war das mit vierzehn: Man hat mit den Mädchen geknutscht, weil es von einem so erwartet wurde. Aber ich schielte beim Küssen auf Horst-Dieter, mit dem hätte ich wer weiß was Jugendgefährdendes getrieben!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch