Claude Lanzmann in Cannes: Murmelsteins Memoiren
Claude Lanzmanns Film „Le dernier des injustes“ ist ein Meilenstein: Im Zentrum steht Benjamin Murmelstein, der dem Judenrat in Theresienstadt vorstand.
CANNES taz | Am Sonntagabend steht Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals, auf der Bühne der Salle Débussy und erzählt, Claude Lanzmann habe sich am Vorabend ausführlich mit dem Präsidenten der Jury, Steven Spielberg, unterhalten. Wie gern hätte ich währenddessen unterm Tisch gesessen und gelauscht! Wo sich das Kino mit dem Holocaust befasst, gibt es extrem unterschiedliche Positionen, und bisweilen werden sie auf dogmatische Weise gegeneinander in Stellung gebracht.
Lanzmann und Spielberg sind auf diesem heiklen Terrain Antagonisten; der eine versteht sich als Anwalt der Nichtdarstellbarkeit, der andere hat keine Scheu vor den Mitteln des Emotionskinos. Der eine kämpft dafür, dass man die sechs Millionen Toten erinnert, der andere hat die Shoah Foundation gegründet, um weltweit die Zeugnisse der Überlebenden zu sammeln. Und diese beiden begegnen einander, vermutlich beim Dinner, und tauschen sich über ihre so unterschiedlichen Filme und Zugänge aus. Wer wäre da nicht neugierig?
Schon betritt Claude Lanzmann selbst die Bühne, von Spielberg ist keine Rede mehr. „Thierry“, sagt er, „liebte meinen Film so sehr, dass er in den Wettbewerb sollte.“ Aber das habe er nicht gewollt.
Und bevor Lanzmann den Festivalleiter umarmt, ergänzt er: „Thierry ist ein vernünftiger Mann. Er hat sich meinen Beweggründen gebeugt.“ „Le dernier des injustes“ („Der Letzte der Ungerechten“) dauert gut dreieinhalb Stunden; im Mittelpunkt steht Benjamin Murmelstein, den Lanzmann 1975 in Rom aufsucht und interviewt. Murmelstein war vor dem Krieg Rabbiner in Wien, vom September 1944 bis zum Mai 1945 stand er dem Judenrat in Theresienstadt vor.
Perfide Strategie der Nationalsozialisten
Das Thema der Judenräte und ihrer Kooperation mit den Nationalsozialisten ist so heikel, dass es, wo immer es aufkommt, erbitterte Diskussion auslöst – man denke an die Empörung, die Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963) oder Joshua Sobols Theaterstück „Ghetto“ (1984) provozierten. Die einen sagen, die Judenräte hätten den Nazis die Arbeit erleichtert, die anderen, sie hätten alles getan, um Schlimmeres zu verhindern.
Fest steht: Es war eine besonders perfide Strategie der Nationalsozialisten, die Judenräte in die Organisation der Deportationen zu verstricken. Murmelstein beschreibt es so: Die Nazis hätten Marionetten gesucht, aber die Marionetten hätten ihrerseits die Fäden in die Hand genommen. Er ist ein überaus gewandter, kluger, nie um eine passende Metapher verlegener Mann. Man glaubt ihm bereitwillig und reibt sich dann doch verblüfft die Augen angesichts gespenstischer Augenblicke.
Über die Zeit vor Kriegsausbruch, als er mit der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ kooperierte, sagt er zum Beispiel: „Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert.“ Lanzmann ergänzt die in Rom gedrehten Sequenzen um Aufnahmen aus dem heutigen Wien, aus Theresienstadt, Nisko oder Bohusovice. Und er montiert Archivmaterial in den Film hinein, zum Beispiel Zeichnungen, die Häftlinge in Theresienstadt malten, oder Szenen aus einem Propagandafilm, den zu drehen die Nazis den inhaftierten Kurt Gerron nötigten.
Archivmaterial zu verwenden, hat Lanzmann bis dato strikt abgelehnt. Vielleicht ist „Le dernier des injustes“ ein Meilenstein nicht nur deshalb, weil die Hauptfigur so vielschichtig und ambivalent ist oder weil man so viele Details über die Art und Weise, wie die Nazis vorgingen, erfährt, sondern auch, weil der Regisseur im Begriff ist, sich von einem Dogma zu lösen. Je weniger erbittert einmal eingenommene Positionen verteidigt werden, umso günstiger stehen die Zeichen dafür, dass man sich – im Kino und anderswo – offen mit dem Holocaust auseinandersetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
NGO über den Machtwechsel in Syrien
„Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Unterstützerin von Gisèle Pelicot
„Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr“
Sturz des Syrien-Regimes
Dank an Netanjahu?
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!
Trump und Selenskyj zu Gast bei Macron
Wo ist Olaf?