Christine Bergmann über sexuelle Gewalt: "Missbrauch hört nie auf"
Der Runde Tisch zu sexuellem Kindesmissbrauch tagt zum letzten Mal. Die ehemalige Beauftragte spricht über die seelischen Folgen, die sexualisierte Gewalt bei Kindern lebenslang auslöst.
taz: Frau Bergmann, am heutigen Mittwoch tagt der Runde Tisch zur Aufklärung der sexuellen Gewalt gegen Kinder zum letzten Mal. Sie haben Ihr Amt Ende Oktober aufgegeben. Sind Sie froh, dass Sie damit die sexuelle Gewalt hinter sich gelassen haben?
Christine Bergmann: Dieses Thema wird man wahrscheinlich nicht mehr los. Aber meinen Auftrag habe ich abgearbeitet und ich wollte mich jetzt auch um meine Familie kümmern, die sich schon Sorgen machte.
Haben Sie mit Ihrer Familie über sexuelle Gewalt an Kindern gesprochen?
Na klar, das geht nicht spurlos an den Menschen vorüber, die einem nahestehen. Mein Sohn hat mir irgendwann signalisiert, das Wort Missbrauch fällt jetzt mal eine Woche nicht.
Weil er es nicht mehr hören konnte?
Nein, er wollte mich schützen. Ich sollte mich mal ein paar Tage nicht mit diesen furchtbaren Taten befassen. Aber man kommt da nicht mehr raus.
Warum ist das so?
Das ist kein Thema wie Arbeitsmarkt oder Familienpolitik, bei dem man sich als Ministerin in ein Thema sachlich einarbeitet und dann am Ende ein Gesetz herauskommt. Missbrauch hört nie auf. Das kommt immer wieder zurück. Auch in einem selbst. Ich hatte ja Ende Oktober Schluss gemacht. Und prompt kamen dann diese Geschichten mit der Berliner Parkeisenbahn hoch.
Sie meinen den Berliner Freizeitpark, wo mutmaßlich eine ganze Gruppe von Päderasten Kinder missbrauchte.
Ja, da ist man sofort wieder drinnen im Thema. Man fragt sich: Was machen die denn jetzt? Und dann sieht man, wie hilflos agiert wird. Ich dachte, das gibts doch nicht, die müssen sich doch sofort professionelle Hilfe beim Aufklären holen!
Ist das schon so klar?
Ja, ich finde heute muss jede Einrichtung, in der Kinder sind, wissen, was sie zu tun hat. Wenn ein Missbrauchsverdacht aufkommt, dann muss man sich an die Beratungsstellen vor Ort oder an unsere telefonischen Anlaufstelle wenden. Es müssen unabhängige Psychologen und Traumatherapeuten her. Und vor allem: Man muss zuhören, den Betroffenen zuhören und ihnen glauben. Das ist das Wichtigste.
geboren 1939, war von April 2010 bis Oktober 2011 die erste Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Die ehemalige Bundesfamilienministerin sitzt auch bei der letzten Sitzung wieder mit am Runden Tisch.
Warum hat Sie der Fall Parkeisenbahn so berührt?
Ich habe diese Bahn schon zu DDR-Zeiten mit meinen Kindern besucht, als sie noch Pioniereisenbahn hieß. Da erschrickt man im Nachhinein. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Da sind Kinder und da sind Nischen, in denen die Päderasten unbeobachtet sind. Es gab sogar Warnungen von der Polizei! Aber es hat sich niemand darum gekümmert. Da fragt man sich: Das kann doch alles nicht wahr sein!
Hat es Sie da gejuckt, wieder ins Büro zu gehen?
Ja, aber ich war im Urlaub. Sonst wäre ich vielleicht sofort zu meinem Team zurück. Aber ich wusste auch, dass man Kindern heute eher glaubt. Etwas Grundlegendes hat sich in der Gesellschaft geändert.
Wie kommen Sie darauf?
Es gibt eine allgemeine Sensibilisierung. Für mich ist ein wichtiges Zeichen, was mir viele Eltern erzählen. Wenn ihre Kinder auf Klassenfahrt oder Jugendfreizeit gehen und irgendjemand dort mitfährt, dann fragen die: Wer ist das, der da mitfährt? Ist er sich der Gefährdungen bewusst? Hat er ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt?
Das ist kein sicherer Schutz.
Klar ist das kein 100-prozentiger Schutz, den gibt es nie. Aber wenn sich eine Einrichtung mit den Möglichkeiten des Missbrauchs auseinandersetzt, dann schreckt das Päderasten ab. Die suchen sich die Institutionen sehr genau aus, in denen sie sexuelle Gewalt ausüben können. Wenn eine Einrichtung ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis verlangt, dann schreckt das zunächst ab.
Viele Missbrauchsinitiativen fürchten, dass die Konjunktur der Aufmerksamkeit bald wieder in sich zusammen fällt. Das Rollback kommt garantiert!
Ich weiß, dass wir noch am Anfang stehen. Aber ich hätte diese Arbeit gar nicht machen können, wenn ich nicht einen Schuss Optimismus in meinen Genen hätte. Ich brauche das Gefühl, dass wir etwas für die Kinder erreichen können.
Frau Bergmann, welche Verletzungen trägt ein Kind bei sexueller Gewalt davon?
Den Verlust an Vertrauen. Er entsteht, wenn Menschen einem sexuelle Gewalt antun, denen man anvertraut ist oder die man liebt. Es ist furchtbar für das Kind, wenn man auch noch Schuld bei ihm ablädt.
Wie kann so etwas funktionieren?
Die Kinder werden manipuliert. Päderasten setzen dazu ein ganzes Arsenal von psychologischen Techniken ein. Wir haben uns im Pädophilenprojekt der Berliner Charité Szenen angeschaut, die die Täterstrategien offenlegen. Da hören Sie dann Stimmen, die zu einem zehnjährigen Mädchen sagen: "Du willst das doch auch, du findest das schön." Diese Form der Manipulation ist schrecklich, das ist geradezu sadistisch. Diese Szenen werde ich nicht mehr los.
Geht der Vertrauensverlust allein vom Täter aus?
Nein. Das Unerträgliche ist, dass die Kinder, wenn sie sich aus dem Kokon von Schweigen und vermeintlicher Schuld heraustrauen, nicht auf offene Ohren stoßen. Sie suchen nach Hilfe - aber sie bekommen sie nicht. Wie soll ein Mensch, der so etwas erlebt hat, jemals wieder zu irgendjemandem Zutrauen haben.
Manche Betroffene sagen: Der größte Vertrauensverlust ist der zu sich selbst: Man vertraut nicht mehr darauf, dass man nein sagen könnte!
Ja, Würde und Mündigkeit eines Kindes werden zerstört. Der Täter nimmt dem Kind seine Stimme – und sein Ich.
Haben Sie selbst durch Ihre Arbeit das Vertrauen in Menschen verloren?
Ich habe heute einen anderen Blick. Ich traue bestimmten Leuten nicht mehr. Wenn ich zum Beispiel am Strand entlanggehe, dann merke ich unwillkürlich auf: Wer fotografiert denn da Kinder? Wer ist denn da noch alles mit dabei? Ich gehe den Leuten mit meinen permanenten Warnungen schon auf den Geist.
Kann eine Gesellschaft überhaupt lernen, dass sexuelle Gewalt eine tiefe seelische Verletzung bei den Opfern nach sich zieht?
Wenn man will, kann man alles kapieren. Aber man muss sich auf das Thema einlassen. Das bedeutet, die größte Hürde für das Verstehen ist die Tabuisierung. Die müssen wir unbedingt durchbrechen.
Wie drückt sich das Tabu aus?
Die Leute fragen mich: "Warum tust du dir das an?" Ich kann das auch verstehen. Man möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die so etwas mit Kindern macht. Man will nicht wahrhaben, dass sexuelle Gewalt geschieht, dass sie nicht verfolgt, geahndet und wirksam entschädigt wird. Man denkt, "Gott nein, so möchte ich die Welt nicht haben!". Aber genau dieses Tabu müssen wir durchbrechen. Wir brauchen Menschen, die sich mit Missbrauch, Pädokriminalität und den seelischen Folgen auseinandersetzen.
Was heißt das konkret?
Der Polizist, der zehn Jahre nach der Tat ein Anzeige aufnehmen soll, darf eben nicht sagen: Ja, wenn sie jetzt erst kommen, dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein. Denn das Gegenteil stimmt.
Wenn schon Individuen abschalten, wie sollen da erst Institutionen lernen, empathisch zu sein?
Schulen zum Beispiel müssen das Thema annehmen. Ich habe von einem Lehrerverband die Frage gehört: Sollen die Pädagogen sich jetzt auch noch um den Missbrauch kümmern? Da sage ich: Ja, das kann ich euch nicht ersparen!
Warum Schulen?
Die meisten Missbrauchsfälle werden dadurch bekannt, dass sich Schülerinnen und Schüler in der Schule an eine Vertrauensperson wenden. Das heißt, wir müssen in den Schulen ein Klima der Offenheit erzeugen. Dafür brauchen die Lehrer Fortbildungen. Und um das zu verstehen, gehören meines Erachtens auch Einzelfälle dazu.
Warum ist der Einzelfall so wichtig?
Der Regisseur Christoph Röhl hat einen eindrucksvollen Film über die Odenwaldschule gemacht, er sagt, man kann Missbrauch nicht mit dem Kopf verstehen, man muss ihn mit dem Herzen erfahren. Das stimmt. Die Menschen werden nicht durch die Statistik, sondern durch einzelne Fallbeispiele berührt.
Wenn man von einer Behörde etwas will, dann muss man einen Antrag ausfüllen. Das ist logisch. Die Betroffenen sagen trotzdem: Das ist eine Demütigung. Ich soll einen Antrag ausfüllen wie beim Bafög-Amt: Das mache ich nicht.
Ja, das ist ein Dilemma. Die Frage ist, wo man beantragen muss. Was wir wollen, ist eine so genannte Clearingstelle. Sie soll die Plausibilität der Anträge prüfen. Kein Rechnungshof wird es hinnehmen, dass nur auf Zuruf was passiert. Uns ist auch wichtig, dass es eine anonyme Stelle ist.
Warum ist das wichtig?
Die Opfer müssen ihren Antrag dann nicht bei der Einrichtung stellen, in der es passiert ist.
Wird der letzte Runde Tisch diese Clearingstelle beschließen?
Ich bin fest davon überzeugt.
Sie sind die Erfinderin der Clearingstelle - Sie sind aber seit 31. Oktober nicht mehr da.
Keine Sorge, ich weiß, dass wir weiter sind. Die Betroffenen sitzen mit am Runden Tisch, die würden sich das nicht bieten lassen. Und die sollen auch in der Clearingstelle ihren festen Platz haben. Alles, was dort geschieht, sollen die Betroffenen mitbestimmen können.
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