Christchurch-Anschlag vor einem Monat: Auch wir haben weggeschaut
Hakenkreuze haben in Christchurch lange Zeit keinen groß gestört. Nach dem Anschlag auf zwei Moscheen ist die Zivilcourage neu entflammt.
Die Frage, wo ich am „schwarzen Freitag“ war, an jenem 15. März, an dem in Christchurch ein rassistischer Attentäter wahllos in zwei Moscheen um sich schoss, kam in jedem Gespräch nach dem Anschlag hoch. Die Kiwis wissen noch genau, wie sie das schwere Erdbeben im Februar 2011 erlebten, die US-Amerikaner wissen noch genau, wo sie sich gerade aufhielten, als Islamisten das World Trade Center zum Einsturz brachten.
Der Anschlag in Neuseeland vor vier Wochen kostete 50 Menschen das Leben und hinterließ etliche mehr als Invaliden, trauernde Angehörige und Schwersttraumatisierte. Die ARD brachte nicht einmal einen „Brennpunkt“ zu dem Attentat. Dabei ist etwas passiert, das in die Geschichtsbücher gehört. Als eine von Hunderten Reportern vor Ort arbeitete ich rund um die Uhr. In Trauer und Schock, und zunächst schien es mir so, als ob es in diesem friedlichen Vier-Millionen-Staat allen so ging.
In der ersten Woche drangen außer meinen Interviews mit Opfern und Helfern nur wenige Stimmen in mein überlastetes Hirn. Es waren die, die sich vorsichtig und mutig der Friede-Trauer-Einigkeit widersetzten. Von wegen „Das sind nicht wir“: Doch, auch wir sind rassistisch. Auch wir haben weggeschaut. Und der neuseeländische Spionagedienst war obendrein zehn Jahre auf dem rechten Auge blind.
Alle sangen gemeinsam die Nationalhymne
Die Tabubrecher – von der Sprecherin des Islamischen Frauenverbandes, Anjum Rahman, bis zum TV-Reporter Jehan Casinader – leisteten den Befreiungsschlag für nicht direkt Betroffene wie mich, die sich jedoch mit einem anderen Dilemma plagen: Der australische Täter war ein white supremacist, hing also einer Fantasie der Überlegenheit von Weißen an. Von ihm bis zum NSU ist es ideologisch kein allzu langer Weg.
Adolf Hitler ist international, und erst recht 18.000 Kilometer von Berlin entfernt noch immer die erste Assoziation mit Deutschland – lange vor Bier, Fußball, Lederhosen und Benz. Meine anerzogene nationale Scham hat auch meine neuseeländische Staatsbürgerschaft nicht ausradieren können. In den letzten Wochen prallte all das aufeinander.
Als wir vor 16 Jahren mit zwei kleinen Söhnen nach Neuseeland auswanderten, war vieles dort neu: Busfahrer sind freundlich. „Nördlich“ bedeutet warm und sonnig. Kinder rennen draußen barfuß rum. Spaghetti aus der Dose isst man auf Toast. Vor den Morgennachrichten wird ein Vogelruf gesendet. Und Hakenkreuze stören niemanden groß.
Ein Jahr war kaum rum, als wir zur ersten Demo gegen Rassismus in unserer neuen Stadt trabten. Nicht die erste für uns, aber die erste in Christchurch – organisiert von der asiatischen Community, die sich Hetze und Angriffen ausgesetzt sah. Als wir uns mit unserem Kinderwagen in die Schar einreihten, erwarteten wir weder Tränengas noch fliegende Pflastersteine, aber wir hatten auch nicht mit dem Dutzend Neonazis gerechnet, das sich stumm protestierend gegenüber aufstellte.
Es war nur ein kläglicher Haufen, ein Ableger der rechtsextremen National Front, darunter auch ein Maori mit tätowiertem Hakenkreuz. Aus Höflichkeit oder falsch verstandener Fairness reichte am Ende der Kundgebung jemand der rechten Truppe das Megafon. „Keinen Fußbreit den Faschisten“ war den krawallfreien Kiwis unbekannt. Am Ende sangen wir alle gemeinsam die Nationalhymne. Ich konnte das und vieles andere nur mit Humor verarbeiten.
Hort der white supremacists
Fünf Jahre später zeigten die Studenten der ländlichen Lincoln-Universität nahe Christchurch, was sie unter Humor verstanden. Fürs Oktoberfest der Erstsemester verkleideten sie sich als SS-Offiziere sowie als jüdische KZ-Häftlinge.
Die meisten der über 13.000 deutschen Einwanderer in Neuseeland verstört dieser typisch britische und verharmlosende Umgang mit dem Nationalsozialismus. Mit einer Ausnahme: Jörg, der berüchtigte Berliner Gründer der berühmten Wunderbar in Christchurchs Hafenvorort Lyttelton, die mit allerhand Trödel ausgestattet ist, fand es lustig, die gegnerischen Figuren seines Tischfußballs mit Hakenkreuzen und Davidsternen zu verzieren. Das war vor über zwei Jahrzehnten und war bald wieder übermalt. Er verließ irgendwann das Land.
Mein erster Besuch im alten Kolonialgefängnis von Napier fühlte sich gruselig an – nicht nur wegen der Exekutionen, die dort im 19. Jahrhundert stattfanden. In die Wände und Bettpfosten waren bis zur Schließung 1993 unzählige Hakenkreuze geritzt worden, nicht immer in korrekter Darstellung. Noch heute gelten die Gefängnisse der Südinsel als Hort der white supremacists.
Ende Januar 2005 stand mein Mann in der Schlange der Verkehrsbehörde hinter einem Skinhead mit Springerstiefeln, auf der Glatze trug er ein großes tätowiertes Hakenkreuz. Es war der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, daher erinnert er sich an das Datum, und daher stellte er den Mann zur Rede. Niemand sonst störte sich an dem Look. Zehn Jahre später hätte wohl auch mein Mann nichts mehr gesagt, weil er längst akklimatisiert war. Solche Einmischung in Privates gehört sich im Land der langen weißen Wolke nicht.
Bei der Party weht die Flagge des Nationalsozialismus
Eine deutsche Freundin von uns radelte an einer Garagenparty vorbei, bei der die Flagge des Nationalsozialismus wehte. Den Nachbarn stieß das nicht auf. Auch der Freundin war das Eingreifen längst abhandengekommen – typisch deutsches Korrigieren und Meckern kommt genauso schlecht an wie unsere teutonische Direktheit. Vor drei Wochen simste sie mir: „Ich überlege mir, diese Leute in meiner Straße bei der Polizei zu melden.“
Ihre Zivilcourage war neu entflammt. Genau wie bei den drei Schülerinnen in Christchurch, die vom ersten öffentlichen Freitagsgebet nach dem Anschlag kamen und sahen, wie ein Busfahrer vor einer Frau in Hidschab die Türe verschloss und einfach losfuhr. Die Mädchen beschwerten sich bei der Buszentrale und gingen an die Presse. Ihre Empörung wäre früher niemandem eine Zeile wert gewesen.
Drei Jahre vor dem Anschlag auf die beiden Moscheen hatte sich der Handwerker Phil Arps vor die Al-Noor-Moschee gestellt, dort eine Ladung Schweineköpfe deponiert, die Hand zum Hitlergruß erhoben und „Beginnt das Abschlachten“ gerufen . Er bekam eine Ordungsstrafe von 800 Dollar. Ungestört fuhr Arps seinen Firmenwagen durch Christchurch – mit Frakturaufschrift und dem Hass-Symbol 14/88. Erst nach dem Anschlag verschwand seine Webseite.
Der Tag der Terrorattacke in Christchurch war nicht nur der Tag, an dem Neuseeland seine Unschuld verlor. Es war auch der Tag, an dem es seine Unkenntnis entblößte. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von einem neuseeländischen Kriegsveteranen.
Die Überlebenden müssen weiter mit der Angst leben
Das einzige Hakenkreuz, das in Christchurch Schlagzeilen machte, war in den Tagen nach dem Anschlag heimlich auf das Pflaster der Brougham Street gesprüht worden – an genau der Stelle, wo zwei Polizisten den Attentäter am Nachmittag des „schwarzen Freitags“ überwältigt hatten. Für die Tausende Kiwis, die den Familien der Opfer halfen, Essen und Blumen brachten, gemeinsam sangen und weinten, war das ein widerlicher Affront. Aber warum war es davor keiner gewesen?
Es fällt mir schwer, all das aufzuzählen, da dieses Land – mein neues Land – Außerordentliches geleistet hat, wofür ich unendlich dankbar bin. Das zweite schwere Unglück innerhalb eines Jahrzehnts hat erneut das Beste hervorgebracht – von Maori-Gangs, die sich schützend vor Moscheen stellten, bis zu den muslimischen Ältesten, die kein einziges Wort des Hasses und der Vergeltung predigten. Eine Botschaft, die um die Welt ging.
Auf dem Weg zu den Verletzten im Krankenhaus liegt ein Meer von verwelkenden Blumensträußen. Handgemalte Karten zerlaufen im Regen. Ab dieser Woche wird alles weggeräumt. Die Überlebenden müssen weiter mit der Angst leben. Ihre neue Normalität heißt, sich mit Polizeischutz auf den Weg zum Freitagsgebet zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge