Chor der Kulturen der Welt: Heimat, ein Abstraktum
Der Chor der Kulturen der Welt um Barbara Morgenstern tritt am Samstag unter dem Motto „Heimat[en] – What is it?“ in Neukölln auf.
Eine klare Definition für den Begriff Heimat gibt es nicht. Für Barbara Morgenstern ist das Wort so komplex, dass sie es in den unterschiedlichen Facetten durch Musik abbilden möchte. Die Berliner Musikerin leitet zusammen mit Philipp Neumann den Chor des Haus der Kulturen der Welt (HKW), der am kommenden Freitag in der Martin-Luther-Kirche in Neukölln mit dem Programm „Heimat(en) – What is it?“ auftritt.
Nach jahrelangem Touren durch Europa Anfang der nuller Jahre der Begriff Heimat für Morgenstern Konturen an. Die in Hagen geborene Musikerin fühlte sich dann zu Hause, wenn sie die zwischenmenschliche Kommunikation und die Subtexte einer Kultur verstand. Heimat ist für sie ein Zustand, der ihr vertraut ist – das kann auch klimatisch sein und sich auf die Natur beziehen.
Typisch für die Flora in Deutschland sind die Wälder. Im Song „Abschied vom Walde“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, den der HKW-Chor singt, geht die Musik fast bildlich auf die Natur ein. Eine absteigende Melodie im Unisono-Gesang des Chors beschreibt zum Beispiel die Täler in den Landschaften. Wenn von dem „schönen, grünen Wald“ gesungen wird, durchmischen sich die Bass-, Tenor-, und Sopranstimmen. Das romantische Lied wirkt pathetisch, beschreibt – mit dem Text Joseph von Eichendorffs – neben dem Vertrauten auch den Aufbruch in das Neue.
Seit zehn Jahren gibt es den HKW-Chor
Nachdem Morgenstern fast zehn Jahre für ihre eigenen Musikprojekte unterwegs war, sei sie bereit gewesen, länger an einem Ort zu verweilen. Es war genau der richtige Zeitpunkt, als Detlef Diederichsen, Programmleiter des HKW, sie 2007 fragte, ob sie einen neuen Chor leiten wolle. Geplant war eine außergewöhnliche Gesangsgruppe, die auch Auftragsarbeiten und moderne Arrangements präsentieren sollte. Zusammen mit Philipp Neumann stellte Morgenstern ein inhaltliches Konzept zusammen. Zusätzlich nahm sie Dirigierunterricht bei Ari Benjamin Meyers, selbst studierter Dirigent und Künstler, der musikalische Grenzen in der Kunst austestet. Die Begegnung mit ihm führte zu weiteren Zusammenarbeiten.
Das Programm von „Heimat(en) – What is it“ enthält unter anderem Meyers’ Arrangement eines Liedes aus Madagaskar. Die originale Aufnahme dazu entdeckte Morgenstern bei einer Recherche im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Während des Ersten Weltkriegs initiierte das Preußische Kultusministerium Sprach- und Musikaufnahmen in Internierungslagern auf Madagaskar. Ziel des Archivs war es, Sprachen und die traditionelle Musik der Gefangenen zu dokumentieren. Die madagassische Aufnahme wurde a cappella eingesungen und war textlich nicht zu entschlüsseln. Das Eingesungene wurde lediglich als Schlachtaufruf beschrieben. Für das Arrangement bediente sich Meyers deshalb der Laute, Melodien und Betonungen. Das historisch belastete Lied wird mit einer sinnlichen Einführung und einem ruhigen Abschluss vorgetragen. Auch wenn man die Sprache nicht versteht, begreift man, dass die Worte im Mittelteil antreibend und animierend gemeint sind.
Andere Lieder, die aufgeführt werden, basieren auf Vorschlägen der Chormitglieder. So bekommt das Programm durch die kulturellen Hintergründe der Sängerinnen und Sänger eine persönliche Note. Die Internationalität im Chor ist ein großer Vorteil für Morgenstern: Oft kann man die Auswirkungen und die Bedeutung von Liedern in anderen Kulturen gar nicht erahnen. Sie selbst sei etwa überrascht gewesen, dass das „Chant des Partisans“ von Anna Marly eines der populärsten Lieder der Widerstandsbewegung in Frankreich war. Den Song verwendete die Résistance im Zweiten Weltkrieg, er stammte von einer in London lebenden Exil-Russin. Durch die Radioübertragung wurde ihm in Frankreich Aufmerksamkeit zuteil, in der Résistance diente er dem Aufruf zum Kampf.
Trauer um verlorene Hoffnung
Die Geschichten der Lieder werden im Programm von den Chormitgliedern vorgestellt. Das israelische Lied „Ein li eretz acheret“ bedeutet übersetzt „ich habe kein anderes Land“. Es wurde in den 80er Jahren als Protestlied gegen den Libanonkrieg gesungen, aber später auch von den Nationalisten übernommen. Ein Chormitglied beschreibt es als Symbol seiner Erinnerungen und der Trauer um die verlorene Hoffnung. Auch Fela Kutis Song „Viva Nigeria“ ist ein Paradebeispiel für die Verschmelzung der Ebenen Politik, Musik und Kultur. Kutis Sprechgesang aus dem Original, mit dem er den Frieden fordert, wird mit den Trompetenstimmen des Originals in die Gesänge des Chors eingebaut.
Die zwölf Lieder und übertragenen Stimmungen von „Heimat(en) – What is it?“ zeigen die vielen unterschiedlichen Gefühle bei dem Gedanken an eine Heimat. Nach den Eindrücken muss man Morgenstern zustimmen: Eine Heimat kann man gar nicht mit einzelnen Worten und erst recht nicht mit Ländergrenzen beschreiben – es reicht vollkommen, wenn man den intimen Begriff in abstrakter Weise abbildet.
Der Chor singt am Samstag, 17. Juni, bei Heimat[en] – What is it?“ in der Neuköllner Martin-Luther-Kirche, Fuldastraße 50, 19.30 Uhr
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!