Chemiewaffen in der Ukraine: Verdacht in Mariupol
In der ostukrainischen Stadt gibt es unbestätigte Berichte vom Einsatz chemischer Kampfstoffe. Die Situation der Menschen vor Ort ist katastrophal.
Russische Medien berichten indes, dass die Stadt mittlerweile weitgehend in den Händen der Separatisten und russischen Truppen sei. Inzwischen sei auch der Hafen von Mariupol in der Hand der Aufständischen, berichtet der Chef der „Volksrepublik“ Donezk, Denis Puschilin, im halbstaatlichen russischen TV-Sender Erster Kanal. Widerstand gebe es nur noch auf dem Gelände von Fabriken. Und nach Angaben des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow, so die gazeta.ru, seien derzeit bereits 98 Prozent der Stadt in russischer Hand.
Gleichzeitig spielt sich für die Zivilbevölkerung eine humanitäre Katastrophe ab. Noch immer leben in der Stadt, wo vor dem Krieg über 400.000 Menschen gelebt hatten, nach Angaben des Bürgermeisteramtes 130.000 Menschen. Und sie haben weder fließendes Wasser noch Strom, Mobilfunk, Internet oder Lebensmittel.
Etwa drei Wochen lang – bis zum 14. März – konnten aufgrund des ständigen russischen Beschusses keine Evakuierungen aus der Stadt durchgeführt werden. Danach wurden immer wieder Korridore geöffnet, über die die Bewohner die Stadt in Privatfahrzeugen verlassen durften. Mehr als 10.000 Zivilisten sollen nach Angaben von Bürgermeister Vadym Boytschenko inzwischen getötet worden sein, 31.000 Menschen wurden zudem von den Russen in die von den Separatisten kontrollierten Gebiete oder nach Russland deportiert.
„Maulwürfe ausräuchern“
Unterdessen beschuldigt das rechtsextreme ukrainische Regiment Asow die russischen Besatzer und die Separatisten, in Mariupol Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Am Montag Abend veröffentlichte der Mitbegründer von Asow, Andrij Bilezkij, auf Telegram ein Video, in dem er über den Einsatz von Chemiewaffen durch die Besatzer berichtete. Um was für Chemiewaffen es sich handeln könnte, sagte er nicht. „Drei Personen haben deutliche Anzeichen einer Vergiftung durch chemische Kampfstoffe, jedoch ohne katastrophale Folgen“ so Bilezkij. Dieser „feige Einsatz von Waffen“ zeige, dass die Besatzer nicht in der Lage seien, Mariupol einzunehmen.
Wenige Stunden zuvor hatte Eduard Basurin, ein Kommandeur der Donezker Separatisten, im russischen Fernsehsender Erster Kanal einem Chemiewaffeneinsatz auf dem Fabrikgelände des Werkes Asowstal in Mariupol das Wort geredet. Da es dort unterirdische Stockwerke gebe, so Basurin, mache es keinen Sinn, die Anlage zu stürmen. Zunächst einmal müsste die Anlage eingekesselt werden. „Und dann müssen wir die chemischen Einheiten anfordern.“ Und diese „werden schon wissen, wie sie die Maulwürfe aus ihren Löchern ausräuchern“, so Basurin.
Auf dem Asowstal-Gelände hätten sich laut Basurin zwischen 3.000 und 4.000 Asow-Kämpfer verschanzt. Sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe bestritten die Separatisten der „Volksrepublik“ Donezk, dass sie in Mariupol Chemiewaffen eingesetzt hätten. Das meldet die russische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf Kommandeur Basurin. Die ukrainische Führung prüft nach Angaben der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maljar derzeit Nachrichten über den Einsatz chemischer Kampfstoffe beim Versuch, die eingekesselte Stadt vollends einzunehmen. „Es gibt eine Theorie, dass es sich um Phosphormunition handeln könnte“, sagt Maljar im Fernsehen. Mehr ließe sich derzeit jedoch nicht sagen.
Auch international schlägt der mutmaßliche Einsatz von Chemiewaffen hohe Wellen. Die britische Außenministerin Liz Truss hat bereits erklärt, dass London gemeinsam mit westlichen Partnern Informationen über einen möglichen Einsatz von Chemiewaffen in Mariupol überprüfen wird. Auch das Pentagon will alle weiteren Informationen aufmerksam verfolgen. Die Angst vor einem Einsatz von Massenvernichtungswaffen steigt in der ukrainischen Bevölkerung. Mittlerweile sei Jod in den allermeisten Apotheken ausverkauft, berichtet das Portal strana.news.
Auch mehren sich Berichte über Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen ukrainische Zivilisten. Die Frauenrechtsorganisation UN Women fordert dringend unabhängige Untersuchungen.
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