„Charlie-Hebdo“-Satirikerinnen: Spitze Federn in Ballons
„Le Pen wäre eine Katastrophe“, sagt die eine. „Wir müssen menschlich bleiben“, die andere. Ein Treffen mit Mitarbeiterinnen von „Charlie Hebdo“.
Hier, im 13. Arrondissement nahe der lärmigen Place d’Italie, geht es beschaulich, fast dörflich zu und die gemütliche Brasserie Les Tanneurs ist mittendrin. Sie ist ein Stammlokal von Minka Schneider, 35, seit Ende letzten Jahres Chefredakteurin der wöchentlichen deutschen Edition des Satiremagazins Charlie Hebdo.
Schneider heißt eigentlich anders – viele Neuzugänge bei Charlie haben seit den Anschlägen von 2015 Pseudonyme gewählt. Sie kommt ursprünglich aus Ostdeutschland, im Lässiglook wirkt sie wie aus Berlin-Kreuzberg. Schneider lebt seit neun Jahren in Paris und ist zweisprachig. „Ich hab keine Angst. Ich bin mittendrin, mittendrin diese bizarren französischen Verhältnisse mit Verve zu verarbeiten. Ich hab Sarko mitgemacht, dann Hollande, und jetzt? Marine Le Pen wäre eine Katastrophe. Auch wenn sie extrem taugt für Satire.“
Geradezu auf die Pointe
Das Les Tanneurs – um die Ecke ranken Rosenbüsche und Glyzinien in die Höhe – ist so etwas wie der fast unwirklich erscheinende Gegenentwurf zum Redaktionsgebäude von Charlie, das nicht weit entfernt liegt, komplett abgeriegelt, nur für die Mitarbeiter zugänglich und stets von Sicherheitsleuten bewacht. Coco, die mit richtigem Namen Corinne Rey heißt, aber nur ihren Künstlernamen verwendet, kommt mit diskreten Leibwächtern zum Lunch. Sie hatte nach der Anschlagsserie vom November 2015 einen Fries für die taz gezeichnet, einen Fries zum „Lachen und zum Weinen“ und über das Haus hatte sie gesagt: „Es ist ein Meerblick mit Sehschlitzen.“
Beim Anschlag auf Charlie wurde sie damals von den Tätern gezwungen, den Code zu den Redaktionsräumen einzugeben. Jetzt sitzt Coco, 35, in der Brasserie neben Minka Schneider. Es gibt Entenbrust, Pfirsich Melba zum Nachtisch, Lunch ist ein Genießerpflichttermin in Paris, nichts mit To-go. Da ist sie noch – die Zeit, sie sich zu nehmen, um länger zu essen. Um zwei Stunden über Frankreich zu reden, darüber, wie sich Charlie sieht, in dieser „clivage“, diesem Macron-Le-Pen-Altparteien-Riss, der hier durch die Gesellschaft geht. Coco, die die heutige Titelseite der taz gestaltet hat, ist zierlich, wirkt so zart wie lebensstark.
„Letztens habe ich von einem Anschlagsopfer im Bataclan gehört, das am Sonntag Marine Le Pen wählen will“, sagt sie. „Da ist mir wieder bewusst geworden: So bin ich nicht und bin es auch nicht durch den Anschlag auf Charlie geworden. Der Terror war und ist furchtbar, aber ich will nicht, dass der Hass von Le Pen, dieses ausgrenzende Verhalten, an die Macht kommt. Trotz allem müssen wir menschlich bleiben.“
Minka Schneider, „Charlie Hebdo“
Schneider nickt, sie hat die aktuellen Charlie-Ausgaben mitgebracht, auf der deutschen haut eine weißbehandschuhte Boxerfaust aus einem Wahlbrief heraus Le Pen direkt auf deren weitaufgerissenen Mund: „Gewählt!“ lautet die Titelzeile. Auf der französischen findet sich dieses Motiv auf der Rückseite, auf der Eins steht nur weiß auf schwarz in Riesenlettern: „Müssen wir Ihnen jetzt wirklich eine Zeichnung anbieten?“
Im Innenteil dann – bei beiden Blättern – satirische Fanfarenstöße in Text und Bild, einerseits oft derber als Vergleichbares in Deutschland und sehr geradezu auf die Pointe, andererseits von einer analytischen Schärfe in Bezug auf politische und gesellschaftliche Themen wie Feminismus, Laizität und Umweltschutz, wie sie sich selten in entsprechenden deutschsprachigen Publikationen findet.
Aber, so Schneider, der Vergleich zwischen etwa der deutschen Titanic, Charlie, aber auch der Wochenzeitung Le canard enchainé, die die Affäre Fillon aufgedeckt hat, hinke. „Das funktioniert aus meiner Sicht nicht. Französische Satireblätter wollen immer auch im Hier und Jetzt aufklären, neben der Pointe noch Politik machen. Wir nennen es ,gymnastique intellectuelle'.“
Seit der Französischen Revolution schon gibt es viele Zeichner, die gleichzeitig auch Journalisten sind. Riss, der Redaktionsdirektor, ist so ein Beispiel, er schreibt dieses Mal in seinem wöchentlichen Leitartikel unter dem Titel „Weder Nichtwähler noch Nichtwähler“ über die „tragische Eitelkeit“ linker Nichtwähler: „Paradox, dass sich viele linke Wähler, die sich für unerbittliche Gegner des Wirtschaftsliberalismus halten, wie Konsumenten verhalten. Weil der zweite Wahlgang ihnen nicht das Produkt bietet, das sie gerne hätten, enthalten sie sich eben.“
„Was soll dieses populistische Geschrei?“
Und, gleich nach dem ersten Wahlgang: „Charlie Hebdo ist keine politische Partei und macht für keine Partei Wahlkampf. … Doch man wählt nicht in erster Linie für sich, sondern für die anderen und wirft einen Wahlschein in die Urne, mit dem vor allem über Werte entschieden wird – hofft man jedenfalls.“ Lange, hitzige Diskussionen hatte es in der Redaktion gegeben, ob man konkret Stellung beziehen sollte.
Schneider blättert weiter, die Entenbrust ist da und delikat, es wird gelacht über eine knallbunte Seite von ihr unter dem Titel „Wie enthaltsam sind Sie?“. Darauf stiefelt ein „notgeiler Nichtwähler“, den Penis in eine selbstgebastelte Pappwahlurne gesteckt, ins Wahllokal. „Fuck die Wahl!“ ruft er, worauf die Behördenvertreter konstatieren: „‚Immerhin kommt er ins Wahllokal.‘ – ‚Meinst du ins oder im?‘“
Stimmt, Schenkelklopfer, ja Kalauer. Trotzdem in dieser „verfahrenen politischen Situation“, so Coco, erfrischend daneben. „Ich frage mich: Was soll dieses populistische Geschrei, dass das ‚System‘ gegen die Franzosen ist? Was ist das System, wenn es nicht die Menschen in ihm meint, mit all ihren unterschiedlichen Ansichten?“
Extrem apolitisch seien mittlerweile viele Franzosen und Französinnen, „man kann es ihnen einfach nie recht machen. Kompromiss und Diskussion? Das ist viel zu vielen zu viel.“ Schneider ergänzt: „Dieses ständige Gerede von la République nervt. Die Frage ist doch: Was ist die Republik und welches Frankreich wollen wir eigentlich?“
Jetzt, im Zeichen des Ausnahmezustandes, beobachte sie oft eine Art vorauseilenden Gehorsam, was Zivilcourage und Meinungsäußerung angeht. „Wir wollten letztens in Lille eine Veranstaltung über Islamophobie machen. Schließlich waren wir im ‚Saal Karl Marx‘, vorher hatte es Raumabsagen gehagelt.“
„Nicht wenige sehen weg“
Hat sich Charlie seit den Anschlägen 2015 verändert, ist das Blatt zahmer geworden? „Nein“, sagt Schneider abrupt, „nein, die Gesellschaft als Ganzes hat sich verändert, sie ist humorloser geworden, ängstlicher, holzschnittartiger.“ Und wenn es die Wahl zwischen einem Kandidaten und einer Kandidatin wie jetzt gibt, „dann wollen nicht wenige Franzosen am liebsten wegsehen und von einem dritten, Perfekten träumen“.
In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird gewählt. Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) sind die Hoffnungsträger ihrer Parteien. Wer kann liberale Wähler überzeugen? In der taz.am wochenende vom 6./7. Mai beschäftigen wir uns mit einem neuen Liberalismus. Außerdem: Männer, die ältere Partnerinnen haben. Wie liebt es sich mit dem Tabu? Und: Patricia Purtschert ist Gender- und Kolonialismusforscherin. Warum sie ihrer Tochter trotzdem Pippi Langstrumpf vorliest. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Manchmal frage sie sich, was „Charb, unser getöteter Chefredakteur, jetzt tun würde, was er schreiben würde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er immun war gegen Populismus. Oder hätte er sich vielleicht doch enthalten?“
Schneider, die den Mauerfall mit einschneidenden Veränderungen für ihre Eltern miterlebt hat, wundert sich „über die Naivität vieler Menschen. Kommt Le Pen dran, ist das ein totaler Systemwechsel, mit schwierigen Konsequenzen für viele. Das ist den meisten überhaupt nicht bewusst.“
Und was macht Charlie, wenn es Macron schafft, dessen Programm bis jetzt nicht recht aufs Tapet kam? „Wir werden genau hingucken, was der angebliche Retter Frankreichs macht, ob er aus Wasser auch echt Wein hinkriegt. Und mit welchen Leuten er sich in Zukunft umgibt.“ – „Ich glaube, wir stoßen einfach weiter spitze Federn in überfrachtete Ballons, die schnell platzen“, sagt Coco und lächelt. Ein Lachen ist es nicht.
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