Aurelie Silvestres Trauer nach dem Terror: Ein Buch als Befreiung

Trauer, niemals Wut: Aurelie Silvestre verlor beim Attentat auf das Bataclan vor zwei Jahren in Paris ihren Mann, den Vater ihrer beiden Kinder.

Eine Frau, Aurelie Silvestre

Aurelie Silvestre Foto: Brigitte Baudesson

Hätte man Aurelie Silvestre noch vor ein paar Jahren gesagt, dass ihr widerfahren würde, was ihr in der Nacht des 13. November 2015 widerfuhr, sie hätte geschworen, sie überlebt es nicht. Sie hätte gedacht, sie breche zusammen, würde schreien, alles kaputtmachen, sich die Haare ausreißen, aus dem Fenster springen, es einfach nicht ertragen können. Doch nichts davon ist passiert.

Aurelie Silvestre sitzt an einem kalten Montagmittag in einem Restaurant im 1. Arrondissement von Paris und stochert in ihrem Salat herum. Sie lebt und lacht und verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse, wenn sie von den absurden Vorstellungen der Leute oder überhaupt der Absurdität ihrer Situation spricht. Sie sagt immer wieder „c’est particulier“, es ist speziell, sie erzählt stolz von ihren beiden Kindern, Gary und Thelma, ein bisschen zaghaft von ihren Zukunftsplänen, von Essen bei Freunden.

Sie ist eine ganz normale junge Frau in Paris und doch hat sie eine ganz andere Intensität. Sie strahlt mit ihren kühlen blauen Augen die fast unmenschliche Stärke und Klarheit derer aus, denen man alle Normalitätsfilter, alle Mäntel des Banalen ohne jede Vorwarnung weggerissen hat: In der Nacht des 13. zum 14. November 2015 verlor Silvestre, damals vierunddreißig Jahre alt, Mutter eines dreijährigen Sohnes und im fünften Monat schwanger, Matthieu, den Mann, mit dem sie fünfzehn Jahre gelebt und diese zwei Kinder gezeugt hatte. Er fiel den Anschlägen in der Konzerthalle Bataclan zum Opfer.

Über dieses Erlebnis, diese Tragödie hat Aurelie Silvestre ein Buch geschrieben, das jetzt auf Deutsch vorliegt. In der französischen Version heißt es „Nos 14 novembres“, wie dieser Tag, an dem für so viele Familien in Paris alles anders wurde, der deutsche Titel gefällt ihr aber besser. Er entspreche dem, was sie sagen wollte, sehr gut: „Wir werden glücklich sein“ (Diana Verlag, November 2017).

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Es ist ein Buch über die Liebe von zwei jungen Menschen, die sich erst einmal monatelang umtänzeln, sich Briefe schreiben und Bücher schicken, bis sie sich endlich füreinander entscheiden und nie wieder trennen. Es ist ein Buch über das Leben zu zweit, über das Elternwerden, die ­Normalität. Und eines über den Moment, in dem nichts mehr normal ist und das Undenkbare über einen hereinbricht.

„Matthieu ist tot“

Bei Aurelie Silvestre war das der Abend des 15. November. Noch einen Tag zuvor, am Morgen des 14. November, den sie gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem Schwager gebannt im Wohnzimmer sitzend, jede Bewegung im Hausflur beobachtend, SMS schreibend, hoffend verbracht hatte, hatte gegen fünf Uhr eine unbekannte Stimme am Telefon verkündet, Matthieu gehe es gut. Er sei ohne einen Kratzer davongekommen, er würde bald zu Hause sein. Fast achtundvierzig Stunden später weckt ihr Vater sie mit den Worten: „Matthieu ist tot.“ Und damit beginnt die Geschichte des Danach.

Die fängt an mit einem Schwanken zwischen Fassungslosigkeit und Trauer, niemals Wut. Etwa als sie seine Kleidung für die Beerdigung aussuchen soll und sie sich fragt: „Wie zieht man seinen Mann für die Ewigkeit an? Leger oder elegant? Was für ein Witz.“ Man folgt Silvestre durch die Tage danach wie einer Maschine, die auf das Vorwärtslaufen programmiert ist. Leute hätten sie damals oft gefragt, wie man sich nach so etwas ein neues Leben aufbaut, nur sei das für sie nicht die richtige Frage: „Man baut sich kein neues Leben auf, man macht einfach weiter, das ist alles.“

Sie sagt das ganz trocken, als hätte es nie eine andere Option gegeben, nie einen Zweifel daran, dass es nur nach vorn gehen kann: „Ich war hochschwanger und hatte einen dreijährigen Sohn, der gerade seinen Vater verloren hat, ich musste mich darauf konzentrieren weiterzugehen. Für meine Kinder, für Matthieu, für mich.“

In etwa so schreibt sie es auch in ihrem Buch. Sie beschreibt den Morgen nach der Nachricht, sie sitzt im Taxi auf dem Weg ins Krisenzentrum, wo die Angehörigen betreut werden. Sie schaut aus dem Fenster, an der Place de la Concorde geht gerade die Sonne hinter dem Riesenrad auf und sie denkt sich: Das ist schön. Es gibt noch das Schöne, es wird es weiter geben. Und dann denkt sie sich: „Wir werden glücklich sein.“

Die Zeit hilft

Fragt man sie heute, ob es gelungen ist, ob sie glücklich sind, lächelt sie verlegen mit ihrem sehr roten Mund: „Das ist eine schwierige Frage. Es wäre irgendwie komisch zu sagen: Na klar! Aber ich denke, wir sind auf dem Weg dahin. Langsam, aber sicher. Die Zeit hilft.“

Das Verrückte sei ja, dass dieser Tag, der 14. November, nicht nur der Tag sei, an dem das Grauen über sie hereingebrochen sei. Es sei auch das Ende der Angst. Wie das? „Ich habe keine Angst mehr. Nie. Früher war ich eine nervöse Person, ängstlich, oft besorgt. Das ist alles weg, wie weggefegt. Ich kann wieder in ein Flugzeug steigen, ohne dass es irgendwas mit mir macht. Alles ist heute möglich, wir können alles machen, etwas Schlimmeres als das wird uns nicht passieren. Das ist eine sehr befreiende, beruhigende Erkenntnis.“ Natürlich habe es eine Weile gedauert, bis sie wieder alles tun konnte. Als sie zum Beispiel zum ersten Mal in ein Konzert ging, da saß sie im Taxi und fragte sich, warum sie sich das eigentlich antut. „Als ich dann dort war, habe ich geweint, vielleicht zehn Minuten, und plötzlich waren meine Tränen andere. Es war vorbei. Es war okay.“

Ihr Buch, dieses Buch, habe sicher auch eine Rolle gespielt, es war eine Befreiung. Geschrieben hat sie es allerdings für ihre Kinder, ihren Sohn Gary und ihre Tochter Thelma, die vier Monate nach dem Tod ihres Vaters zur Welt kam. Sie habe ihre Geschichte für die beiden festhalten wollen, mit den Worten, die aus dem Moment heraus richtig waren. Für später, damit sie es verstehen können – als ihre Geschichte, nicht als gesellschaftliche Katastrophe. Erst gestern habe Gary sich aus den neu gelieferten Taschenbüchern einen Turm neben das Bett gebaut und sei ganz stolz gewesen. Da hätte sie fast geweint, sagt Silvestre und lächelt mit ihrem schönen, traurigen Lächeln. Denn am Ende sei das das Einzige, was zählt, das Einzige, was sie sich wünscht: aus diesem Grauen, aus dem Schmerz etwas Schönes zu machen. Mit diesem Buch ist ihr das gelungen.

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