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Charkiwer Künstler Zhadan und GurzhyElektropop für Agnostiker

Serhij Zhadan und Yuriy Gurzhy performten „Fokstroty“ in Potsdam. Futurismus und ukrainische Poesie des frühen 20. Jahrhunderts trafen auf Diskoklang.

Serhij Zhadan im Waschhaus Potsdam Foto: Soeren Stache/dpa

Die Frage, womit eigentlich ein Schriftsteller trommelt, beantwortet Serhij Zhadan mit der Tastatur. Tatsächlich schickt der Dichter, Schriftsteller und Übersetzer aus Charkiw am Samstagabend im Potsdamer Waschhaus eine Schreibmaschine über ein Mikrofon abgenommen in den Saal. Das Gerät wird so zum Perkussionsinstrument. Sein metallisches Klacken passt sich gut in den Diskoklang des Konzertprogramms „Fokstroty“ ein, mit dem Zhadan und sein Freund und Kollege Yuriy Gurzhy, beide eint nicht nur die Heimat- beziehungsweise Geburtsstadt, seit 2021 den ukrainischen Futurismus der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die Bühne bringen.

Dass der Futurismus die Schönheit der Welt um den Klang der Maschinen und die Geschwindigkeit der Automobile bereichert hörte und sah, ist bekannt; wie auch, dass sein Begründer, der Italiener Filippo Tommaso Marinetti, dieser unbedingt modernen Kunstbewegung zu einem eingetrübten Ruf verhalf, als er sie Mussolini andiente. Aber der Futurismus spielte nicht nur in Mailand und Moskau, sondern eben auch in Charkiw, Kiew und Odessa.

Zhadan konnte in den neunziger Jahren, kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine, über den Futurismus promovieren. Dreißig Jahre später nahm der Musiker und Autor Gurzhy in Charkiw das Knarzen der Treppe im Literaturhaus „Slowo“ auf. Das Geräusch, seine Mischung aus menschlicher Bewegung in der Interaktion mit von Menschen für Menschen gemachter Architektur, ist am Anfang des Potsdamer Konzerts zu hören. Mit ihm verbindet sich auf bestürzende Weise Geschichte und Gegenwart.

„Slowo“ heißt auf Ukrainisch „Wort“ und wird mit einem kyrillischen C geschrieben. Die Taste wird es auch auf Zhadans Schreibmaschine geben. Diese stammt aus dem „Slowo“-Haus, das in ebenjener C-Form 1927 von Mychajlo Daschkewytsch im konstruktivistischen Stil konzipiert und 1929 nach einer von Stalin persönlich bewilligten Finanzspritze fertiggestellt wurde. Es sollte zur Heimat mittelloser Autoren werden und geriet zur Zeit der stalinistischen Säuberungen, in der Ukraine schon vor 1936/37, zur tödlichen Falle.

Zeuge und Opfer des Großen Terrors

Mykola Chwylowyj, Bewohner sowie Mitbegründer und Leiter der WAPLITE, der „Freien Akademie für Proletarische Literatur“, erschoss sich 1933 in der Wohnung Nr. 9, um nicht „Zeuge oder Opfer des Großen Terrors zu werden“. Schreibt Oksana Shchur in ihrem Vorwort zur Konzertbroschüre. 33 „Slowo“-Bewohner wurden hingerichtet. Shchur weist auf Yuriy Lavrinenkos Anthologie ukrainischer Moderne „Die ermordete Renaissance 1917–1933“ hin. Der Titel und der Umstand, dass das Buch 1959 in Paris erschien, sprechen für sich. Anfang März 2022 geriet das „Slowo“-Gebäude in das Fadenkreuz des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Wie sagt man angesichts dessen auf der Bühne „Hallo“? Man macht es einfach und trotzdem. Zhadan und Gurzhy tun es in Potsdam mit dem gleichnamigen Gedicht von Mykhail Semenko. Sie spielen tanzbaren Elektropop für Agnostiker. Die vorderen Reihen der Bestuhlung wurden vorausschauend abgebaut. „Nicht Zeus, nicht Pan, nicht Heil’ger Geist, / Nur Sonnenklarinetten“, heißt es bei Pavlo Tychyna. Ein zweites Mal gespielt, diesmal mit der Lyrikerin Ulrike Almut Sandig Gesang, wird es eine von drei Zugaben.

Es gibt einen Moment, da klingt die Musik wie „Ladies’ Night“ von Kool & The Gang. Der Abend solle bitte nicht schwer daherkommen, hat Zhadan eingangs gesagt. Das gilt auch für Mykola Bazhans antifaschistische Hymne von 1942, die an jedem 9. Mai im ukrainischen Radio läuft und mit der Zhadan und Gurzhy am Abend des Internationalen Tages des Reggae das Konzert beschließen. Ihr Publikum singt mit.

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