piwik no script img

Chaos im ÖPNVDer ganz normale Wahnsinn

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Sorgt das 9-Euro-Ticket für Frust, weil die Züge überfüllt sind? Nein. Das besondere Ticket ist eine gute Idee. Es ist der Normalzustand, der nervt.

Da geht noch mehr: Fahrgäste in einem Zug von Berlin Richtung Ostsee am Pfingstwochenende Foto: dpa

P fingstmontag, früher Nachmittag. Die Regionalbahn aus Cottbus Richtung Berlin ist fast leer. Draußen lacht die Sonne, drinnen lächelt die Zugbegleiterin. Keine Spur von den befürchteten Massen, die am ersten Juniwochenende vom 9-Euro-Ticket in die Züge gelockt werden sollten; kein Gedränge an den Türen von Berliner*innen, die Pfingsten mitsamt Rad im Umland verbracht haben und jetzt müde nach Hause transportiert werden möchten.

Während andernorts an diesem Wochenende Bahnsteige wegen zu großen Andrangs von der Polizei geräumt werden; während in den Zügen Richtung Ostsee die Räder keinen Platz mehr finden, ist im RB 24 alles in bester Ordnung – abgesehen davon, dass der Zug nicht an seinem eigentlichen Ziel ankommen wird. Statt nach und durch Berlin nach Eberswalde zu fahren, ist bereits in Bestensee Ende. Der Grund: Bauarbeiten im nachfolgenden Bahnhof Königs Wusterhausen, die gleich auch noch die S-Bahn dort lahmlegen. Der Ersatzverkehrsbus will einen deswegen sogar gleich zum Flughafen BER bringen.

Die Baustelle sei bereits seit einigen Wochen bekannt und werde immer mal wieder in den nächsten Monaten für Behinderungen sorgen, erklärt die Zugbegleiterin. Sie rät deswegen, die Bauarbeiten-App der Bahn aufs Handy herunterzuladen. „Die dürfte ganz hilfreich sein“, sagt sie. Natürlich tritt der Vorführeffekt ein: Hier im Südosten Brandenburgs ist die Versorgung mit mobilen Daten löchrig.

Doch den Tipp darf man gerne weiter geben. Denn es dürften nur in Einzelfällen die durchs 9-Euro-Ticket angelockten Menschen sein, die in den nächsten drei Monaten des Sommers allein wegen ihrer schieren Masse Bahnfahren schwer erträglich machen. Es sind die normalen Pannen und Baustellen, die dringend zu erneuernde marode Infrastruktur, die die Nerven vor allem von Bahn-Stammgästen auf die Probe stellen werden. Stammgäste, von denen sich manche kaum mehr an eine pünktliche Fernverkehrsverbindung erinnern können.

Das 9-Euro-Ticket könnte Anfang einer grundlegenden Auseinandersetzung darüber sein, was der ÖPNV leisten muss

Ein Blick auf die Webseite der Bahn zeigt, was da in der nächsten Zeit droht. Allein für den Regionalexpress 1 von Magdeburg nach Frankfurt (Oder) und Eisenhüttenstadt listet die Seite mit den baubedingten Fahrplanänderungen knapp 20 Einträge auf. Manche Einschränkungen werden kaum auffallen, weil sie einzelne Verbindungen in der Nacht betreffen; andere sind schwerwiegender, weil Kunden teils die doppelte Fahrzeit und lange Umwege einplanen müssen. Auch die Berliner S-Bahn baut in diesem Sommer an vielen Stellen. Die Folge: Verzögerungen und Ersatzverkehr.

In der Debatte um die Sinnhaftigkeit des 9-Euro-Tickets argumentieren Kritiker, dessen Kosten in Milliardenhöhe hätten besser gleich in bessere Infrastruktur investiert werden sollen: in neue und mehr Waggons, flottere Strecken, in saubere Bahnhöfe mit funktionierenden Aufzügen. Das wäre sicher nicht falsch gewesen.

Aber wer weiß, ob und wann das Geld wirklich effektiv genutzt worden wäre. Denn wo herrscht gerade kein Sanierungsstau? Viel wichtiger: Der Wow-Effekt, den das Super-Duper-Sparpreis-Angebot ausgelöst hat, wäre ausgeblieben. Und damit auch die Debatte um die Ausstattung des ÖPNV, im besonderen des regionalen ÖPNV.

Die hat gezeigt, wie viele Strecken vor allem im Osten seit 1990 still gelegt wurden; wie wenig dem Bund und den Ländern die Bahn wert war und ist; wie viel Geld derweil in den motorisierten Individualverkehr gesteckt wurde. Und gerade weil die aktuelle Diskussion nicht nur die Stammgäste betraf, sondern auch viele andere – allein die Bahn hat bundesweit 6 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft – ist diese öffentliche Aufmerksamkeit viel wertvoller.

Die FDP hat schon sinnloser Geld ausgegeben

Sie hat im besten Fall eine Bevölkerungsgruppe für eine Thematik sensibilisiert, die sie derzeit vielleicht noch nicht betrifft, weil (mindestens) ein Auto vorhanden ist und viel genutzt wird. Aber angesichts der Klimakrise und der steigenden Energiepreise könnte sich das schon bald ändern – freiwillig, um etwas gegen die Erderwärmung zu tun, oder gezwungenermaßen, weil man sich Autofahren nicht mehr in dem Maße leisten kann wie bisher. Die FDP, deren Verkehrsminister Volker Wissing das 9-Euro-Projekt verantwortet, hat schon für weitaus schlechtere Ideen Geld rausgehauen.

Und so könnte das 9-Euro-Ticket der Anfang einer grundlegenden Auseinandersetzung darüber sein, was der ÖPNV in Berlin, Brandenburg und Deutschland leisten muss, und wer ihn sich leisten können muss. Am Ende gilt es vielleicht als Aufbruch in eine andere Mobilität.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • RS
    Ria Sauter

    Das Ticket trifft die Wünsche der Bürger.



    Kostengünstig von A nach B mit einem Schein in allen Bundesländern. Es wäre optimal, wenn es bliebe und man die Zeit nutzen würde bei Bus und Bahn und politisch.

  • Sich in Corona-Zeiten in Busse und Bahn quetschen, völlig irre.

  • Besser geplant,könnte es weniger stressig -insbesondere für die Stammkunden- ablaufen: Z.B. Fahrradmitnahme nur mit einem Normalticket, weil in dieser Beziehung auf einigen Strecken eh schon Engpässe vorhanden waren und Pendler Probleme bekommen, ihren Betrieb rechtzeitig zu erreichen. Es gibt Stosszeiten, in denen reisende Rentner den Pendlern die Mitfahrt beschwerlicher als sowieso schon machen: Züge verspäten sich, weil es länger dauert, im Gedränge rechtzeitig zum Ausstieg zu gelangen. Das liesse sich verhindern, z.B. nur jeden zweiten Zug für 9 € frei zu machen.

  • "Es ist der Normalzustand, der nervt."



    Ja, so kann man das auch durchaus sehen!