Castorf-Premiere in Berlin: Melancholie und Raserei

Frank Castorf inszeniert Brechts „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble. Dabei schneidet er Brecht und Antonin Artaud gegeneinander.

Eine Frau stiert auf einen Apfel, ein alter nackter Mann sieht ihr zu

Szene aus Frank Castorfs „Galileo Galilei“-Inszenierung Foto: Matthias Horn

„Ich hab den Frank letztens in der Kantine getroffen, der sieht auch nicht mehr so gut aus.“ Nein, kein flüsternd hinter vorgehaltener Hand gesprochener Premierentalk, das Lästermaul steht auf der Bühne: der Schauspieler Aljoscha Stadelmann.

Es ist noch verhältnismäßig früh – knapp 21 Uhr – im Laufe/Rausche einer langen Theaternacht, als Frank Castorf am Berliner Ensemble seinen Tod ins Spiel bringt. Gespielt wird seit bisher drei Stunden „Galileo Galilei“, nach Bertolt Brecht natürlich.

Dessen „Das Leben des Galilei“, das der Godfather des BE in Svendborg, Dänemark schrieb, ist einer der zwei zentralen Texte dieser Inszenierung. Das Stück über den italienischen Universalgelehrten, in dessen letzter Fassung (von 1945) Brecht die eigene Enttäuschung über die Wissenschaft, die sich vor den Karren des Nationalsozialismus hatte spannen lassen, verarbeitet hat, wird an diesem Abend von Anfang bis Ende erzählt. Dennoch ist sie natürlich der Ausgangspunkt für ein Castorf-typisches Ausufern.

Aber der Reihe nach: Zu Beginn gehört dieser Theaterabend eindeutig dem 86-Jährigen Jürgen Holtz, der seine Sätze mit der Souffleuse im Ohr und mit ruhender Klarheit spricht. Anfangs ist er dabei komplett nackt. Holtzs zitternder, sich offenkundig im Vergehen befindlicher Körper, der trotzdem weniger Anspannung als vielmehr Spielfreude ausstrahlt, ist dabei das erste von einigen starken Bildern, für die sich die sechs Stunden im Theater am Ende gelohnt haben werden.

Galileis Brotjobs

Erzählt wird anfangs, wie Galilei in seiner Heimat Padua zwar frei forschen darf, aber so viele Brotjobs annehmen muss, dass ihm die Zeit fehlt. Als er beim Blick durch das überlebensgroße bewegliche Fernrohr, das Bühnenbildner Aleksandar Denic ins Zentrum der Drehbühne rückt, sieht, dass die Erde (und der Mensch) nicht der Mittelpunkt des Universums sind, beschließt er, mit seiner Wahlfamilie nach Florenz zu gehen, um sich dort von den Medici seine Forschung finanzieren zu lassen.

So weit, so easy zu folgen. Castorf hat nun aber natürlich andere Pläne, als bloß zu erzählen, wie Galilei in der Folge die katholische Kirche verärgert, unter Androhung von Folter seine Erkenntnisse widerruft und schließlich zum Schweigen verdammt seinen Lebensabend in seinem Landhaus verbringt.

Kurz vor Mitternacht intoniert Jeanne Balibar „Blackstar“ von David Bowie

Noch mehr als das scheint ihn zu interessieren, warum Brecht in den späten Vierzigern vom Lehrtheater abrückte und in seinem „Kleinen Organon“ die Unterhaltung in den Mittelpunkt seiner Theaterarbeit stellte.

Ein anderer regelmäßiger Bezugspunkt Frank Castorfs ist das Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud. Dieses setzt er Brecht als Antipoden vor die Nase. Artauds Aufsatz „Das Theater und die Pest“ ist zugleich Untertitel der Inszenierung und der zentrale zweite Text, der ab Stunde zwei der Inszenierung immer wieder dialektisch gegen den Brecht-Text geschnitten wird.

So ruhig und melancholisch, wie die Brecht-Hälfte geraten ist, so wild ist die Artaud-Hälfte. Während in ersterer die Drehbühne meist stillsteht und die Spieler*innen in Richtung Publikum sprechen, ist zweitere die reinste Raserei: es wird gerannt, geschrien, die zum Einsatz kommende Live-Kamera rückt brutal nah an Gesichter heran, die oft zu Fratzen eskalieren.

Sina Martens, die wie alle Frauen in dieser Inszenierung, mit Ausnahme von Jeanne Balibar, an diesem Abend leider eher unterfordert werden, drückt sich beispielsweise minutenlang mit Balibar vor den Augen der Kamera blutige Pestbeulen aus; so lange, bis beide voller Theaterblut sind.

Bowies „Blackstar“

Die theoretischen Texte Ar­tauds sind ein stetiger Tanz auf dem Vulkan des Wahnsinns – in den ihr Verfasser selbst in den Vierzigern stürzte – und so gerät auch das Stück vor allem nach der Pause zunehmend aus den Fugen und wird immer länger und länger und länger. Vor ein paar Tagen noch hatte Frank Castorf in einem Pressegespräch eine Länge von höchstens viereinhalb Stunden versprochen – es wurden dann doch sechs.

Kurz vor Mitternacht intoniert Jeanne Balibar mit brüchiger Stimme und einer Sonne auf dem Kopf a cappella „Blackstar“ von David Bowie. Ein Lied, das wenige Tage vor dessen Tod erschien und in deren mäandernden Lyrics Bowie für viele seinen bevorstehenden Abgang reflektierte.

Womit wir wieder beim eingangs zitierten Aljoscha Stadelmann wären: Kurz vor der Pause blödelt sich dieser mit Wolfgang Michael durch eine Szene, in der erst Heiner Müller, dann die Eltern Frank Castorfs und schließlich Castorf selbst für tot erklärt werden. Allerdings mit dem Zusatz: Im Traum kann man ja bekanntlich nicht sterben, und das hier, also das Theater, das ist ja wie ein Traum, nicht?

Dass sich Castorf mit diesem Abend offenbar unter anderem auch mit der (eigenen) Sterblichkeit auseinandersetzt, wird in den religiösen Bezügen deutlich, die die Inszenierung immer wieder aufgreift. Wieder das ­Dialektische: Genauso wie ­Castorf Brecht und Artaud gegeneinander ausspielt, um zu erforschen, welchen Wert die Kunst heute hat, untersucht er auch deren Begriff von der Welt.

Bei Artaud ist die lustvolle Zerstörung und das Unterwerfen unter ein unmenschliches, also göttliches Spektakel im Theater der Grausamkeit offenkundig von dessen katholischer Erziehung injiziert und lässt sich unter anderem auch als Antwort auf die Entzauberung der Welt in Zeiten der Technik lesen – ein reaktionärer Gedanke.

Bei Brecht hingegen standen zu jeder Zeit die Menschen und ihre gegenwärtigen Belange im Zentrum. Sowohl die Menschen als auch die Überwältigung interessieren Castorf, an diesem Abend scheint er sich am Ende aber für den Menschen zu entscheiden: Seinen Sohn Rocco Mylord, den er dem alten Holtz als jugendlichen Anspielpartner zur Seite gestellt hatte, lässt er den Abend nach der kräftezehrenden zweiten Hälfte unerwartet beschließen – es gäbe doch noch so viel zu lernen, sagt dieser.

Pünktlich um Mitternacht wird das Publikum mit diesem Fünkchen Hoffnung in die eisige Nacht entlassen.

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