Bundeswehreinsatz in Afghanistan: Kämpfen sollen die anderen
650 deutsche Soldaten sind noch in Masar-i-Scharif stationiert. Ende 2015 ist Schluss. Zu früh oder höchste Zeit für den Ausstieg?
MASAR-I-SCHARIF taz | Im größten deutschen Feldlager in Afghanistan zeigt sich die neue Mission der Bundeswehr vor allem in den weiten Leerflächen. Camp Marmal hat den Charme eines Gewerbegebiets. Zwischen Wohncontainern und Wellblechhallen breiten sich Schotterfelder aus, und wo einst Mannschaftszelte standen und gepanzerte Fahrzeuge parkten, locken Wasserpfützen Vögel an.
Afghanistan ist dabei, sich das 300-Hektar-Feldlager am Rande der Stadt Masar-i-Scharif zurückzuerobern. Zeitweise waren hier bis zu 6.000 Soldaten stationiert, die meisten kamen aus Deutschland. Gemäß der neuen Mission „Resolute Support“ (RS) befinden sich hier seit Januar noch 650 Deutsche und noch mal so viele Soldaten aus 20 weiteren Nationen. Statt zu kämpfen, sollen sie die Spitzen der afghanischen Armee und Polizei ausbilden, sodass diese selbst einmal Aufständische bekämpfen können.
Die Aufgabe ist gewaltig: 42.000 Sicherheitskräfte hat die afghanische Regierung in wenigen Jahren für den Norden des Landes rekrutiert. Binnen kürzester Zeit sollen sie sich das passende Know-how aneignen. Ein Jahr noch werden täglich rund 120 internationale Berater, darunter 50 Deutsche, vom Camp Marmal in das 25 Kilometer entfernte Ausbildungscamp Schahin fliegen und ihre afghanischen Partner schulen. Danach werden sie sich nach Kabul zurückziehen – und die afghanischen Soldaten und Polizisten im Norden sich selbst überlassen.
Druckmittel IS
10.548 zivile Opfer hat der bewaffnete Konflikt in Afghanistan im Jahr 2014 nach Angaben der dortigen UN-Mission (Unama) gefordert. Darunter sind 3.699 Tote, ein Anstieg um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr, sowie 6.849 Verletzte (plus 21 Prozent). Seit 2009, dem Jahr des Beginns der Statistik, hat es demnach 47.745 Zivilopfer gegeben, darunter 17.774 Tote. Erstmals seit 2009 hat es jetzt mehr Opfer durch Kampfhandlungen am Boden gegeben als durch Sprengfallen (IEDs) oder andere Kampfformen. Die Opferzahlen für 2014 übertreffen damit den bisherigen Negativrekord des Jahres 2011. Damals starben 7.842 Zivilisten, doch lag die Zahl der Verletzten damals mit 4.709 niedriger. (taz)
Die Autorin ist mit der Bundeswehr nach Afghanistan geflogen, die auch die Kosten für Übernachtung und Verpflegung im Camp trug.
Ist es zu früh? Oder höchste Zeit? Die USA signalisieren neuerdings, dass sie ein längeres Bleiben in Erwägung ziehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert sich ähnlich. Bleiben oder gehen – das ist das Gesprächsthema Nummer eins an diesem Donnerstagmittag. Zur Übergabe des Kommandos an Brigadegeneral Andreas Hannemann sind der deutsche Botschafter aus Kabul und der Generalkonsul, der Chef des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und ein Stellvertreter des Provinzgouverneurs Mohammed Atta Nur ins Camp Marmal gekommen.
In der etwa zehn Meter hohen Flughalle Hangar B, wo die Zeremonie stattfindet, wirkt der afghanische Abgeordnete Mohammed Sahir Wahdat in seinem Umhang wie ein Exot im eigenen Land. Zwei Welten prallen hier aufeinander: Die eine ist die der SoldatInnen im Inneren des Feldlagers, wo sie Müll trennen, Wasser aufbereiten und anlässlich des Festakts die Halle mit glänzenden Panzern schmücken. Die andere liegt jenseits der zweieinhalb Meter hohen Mauern, die das Camp abschirmen. Dort kämpfen afghanische Soldaten meist nur mit Kalaschnikows gegen Aufständische. Jede Woche sterben dabei 40 bis 60 ihrer Leute.
Wahdat nutzt die Gelegenheit, um auf einen Verbleib der Soldaten zu drängen, „ansonsten werden die Berge von Afghanistan ein sicherer Himmel für Terroristen“. Seit Kurzem hat der afghanische Politiker ein neues Druckmittel: den Islamischen Staat (IS), der inzwischen auch in Afghanistan Kämpfer rekrutiert. Ein paar Kommandeure hätten die Seiten gewechselt, heißt es. Zwar glauben die Gäste hier nicht, dass ausländische Kämpfer in Afghanistan Fuß fassen könnten, weil das die Taliban nie zulassen würden. Doch Wahdat warnt: „Sie wollen eine Tragödie verursachen, nicht nur für Muslime, sondern für alle Religionen auf der ganzen Welt.“
Das Camp als Wirtschaftsfaktor
Die rund 20 afghanischen Journalisten, die der Zeremonie beiwohnen, glauben die eigentlichen Gründe für das Drängen des Gouverneurs zu kennen: „Camp Marmal ist für uns ein wichtiger Wirtschaftsfaktor“, sagt Mustafa N., der für die internationale Nachrichtenagentur AP arbeitet. 566 Ortskräfte arbeiten derzeit direkt für die Bundeswehr, viele von ihnen in Masar-i-Scharif. Dazu kommen Angestellte ziviler Firmen, die zum Beispiel die Wäsche erledigen oder beim Abbau der Zelte helfen. Sobald die internationalen Soldaten das Camp verlassen, verlieren sie ihren Job.
Reporter Mustafa N. hat auch ein persönliches Interesse daran, dass die internationalen Truppen bleiben. Er erhält Drohanrufe und -E-Mails, wechselt ständig seine Handykarte. Die Vorfälle hat er angezeigt. „Die Regierung unternimmt nichts, um uns zu schützen“, beklagt er sich. Die Polizei traue sich keine 30 Kilometer aus der Stadt heraus. Solange aber die internationalen Truppen am Rande von Masar-i-Scharif stationiert sind, fühlt er sich in der 300.000-Einwohner-Stadt sicher.
Das Einzige, was man von Masar-i-Scharif bei klarer Sicht vom Camp aus sieht, ist der Turm der blauen Moschee – einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte Afghanistans. Wer zumindest auf Fotos sehen will, in welchem Land er sich gerade befindet, muss in die „Oase“ gehen – das ist der Freizeittreff der Militärseelsorge. Hier gibt es gelbe Plastikpalmen, eine Törtchenvitrine und Dosenbier, das der Kellner im Glas serviert.
Kartenlesen ist Kulturtechnik
An diesem Februarnachmittag redet dort Brigadegeneral Harald Gante über die Lage in Nordafghanistan, bisher hatte er das Kommando im Camp inne. Schon im letzten Sommer hat man hier damit begonnen, die afghanischen Sicherheitskräfte zu beraten. „Kämpfen können sie selbst“, sagt Gante. „Aber das müssen wir der Bevölkerung erst klarmachen.“
Denn es mangelt der Region – und damit den Kollegen – an vielem: vor allem an Infrastruktur. Die Internetverbindung nach Kabul ist schwach, es gibt nicht ausreichend Kraftstoff, das Personalmanagement ist chaotisch, Korruption ein großes Problem.
Major Alexandra K., 35, weiß, dass manche Probleme nicht nur technischer Art sind. Die Geografin fliegt regelmäßig in das nahe gelegene Ausbildungscamp der afghanischen Nationalarmee, um dort das Führungspersonal zu beraten. „In der Kultur der Afghanen ist das Kartenlesen nicht vorgesehen“, erklärt sie. Stattdessen orientierten sich die Afghanen an Fixpunkten, die jeder kennt: dem Bäcker, der Moschee. Militärisch bedeutet das: Sie arbeiten auf Sicht. Alexandra K. hat jetzt die Aufgabe, einen in Russland ausgebildeten Oberstleutnant im Kartenlesen und im Umgang mit GPS-Geräten sowie Programmen wie falconview.org zu trainieren. Später soll er dann selbst Soldaten ausbilden.
Nicht von oben herab
Bevor sie mit ihrem eigentlichen Auftrag beginnen konnte, musste sie das Vertrauen ihres Schützlings gewinnen. Keine einfache Aufgabe als ledige Frau. Bei den ersten Treffen habe sie vor allem über die Familie gesprochen, erzählt Alexandra K. Um Kartenlesen und Operationsplanung ging es erst später. Doch auch dabei musste sie aufpassen, nicht zu oberlehrerhaft aufzutreten. Mit Sätzen wie „Wir hatten damit auch Probleme“ zeigt sie Verständnis und erklärt dann: „Wir haben das auf diese Weise gelöst“.
Nur noch bis Ende März ist Alexandra K. in Afghanistan – insgesamt fünf Monate hat sie dann den afghanischen Oberstleutnant gecoacht. Ihre Erfahrungen zeigen, dass es Zeit braucht – einerseits das Vertrauen der Afghanen zu gewinnen und anderseits technische Probleme zu lösen, die mit der Kultur des Landes zu tun haben. Ist das bis Ende des Jahres überhaupt zu schaffen?
Für Alexandra K. stellt sich diese Frage nicht. Sie konzentriert sich darauf, was sie bis Ende März erreichen will. Ihre KameradInnen sehen das ähnlich: Oberstabsarzt Manuela H. bringt einem afghanischen Arzt bei, ein HNO-Gerät zu bedienen. „Bis ich weg bin, muss er damit selbstständig arbeiten können – denn ansonsten kennt hier niemand das Gerät“, sagt sie. Hauptmann Florian W. berät die Redakteure des Radiosenders Bajan-i-Schamal, den die Bundeswehr mit aufgebaut und finanziert hat. „Bis ich wieder in Deutschland bin, muss ich Geldgeber aus der afghanischen Regierung gefunden haben, damit der Sender weiterbesteht“, hat er sich vorgenommen.
Verwaltung und Logistik
Was aber ist mit dem übergeordneten Ziel – oder besser gesagt: Gibt es ein solches überhaupt? „Wir müssen auch afghanische Lösungen akzeptieren“, sagt Generalleutnant Hans-Werner Fritz, Befehlshaber des Einsatzführungskommandos in Potsdam. Und wie viel Zeit nimmt man sich noch, dieses Ziel zu erreichen? Die entscheidende Frage, sagt Fritz, sei doch die: „Können wir, wenn wir hier rausgehen, mit einem einigermaßen guten Gewissen sagen: Das Ding trägt sich selbst?“
Generalleutnant Carsten Jacobson, stellvertretender Kommandeur der RS-Mission, wird konkreter. „Zumindest während der Fighting Season sollten wir möglichst wenig an unserer Aufstellung verändern.“ Witterungsbedingt kämpfen die Taliban von April bis Oktober. Erst danach sollten die internationalen Truppen den Rückzug beginnen. „Schließlich stehen die Afghanen in diesem Sommer im Prinzip zum ersten Mal allein da.“
Schon heute agiert die Bundeswehr fast nur noch drinnen: Der Flieger der Luftwaffe, der die SoldatInnen aus Köln nach Masar-i-Scharif bringt, landet direkt am Rande des Camp Marmal. Dort ist der Großteil der deutschen Soldaten damit beschäftigt, das Feldlager zu betreiben – sie sind für Verwaltung, Logistik und für das Krankenhaus zuständig. Zum Camp Schahin fliegen die Ausbilder mit Hubschraubern. Nur wenn das Wetter nicht mitspielt, fahren sie in gepanzerten Fahrzeugen übers Land – begleitet von einem Sicherheitstross aus Sanitätern und Sprengstoffscouts. Die Aufgabe, das Feldlager in einem Umkreis von 20 Kilometern abzusichern, übernehmen seit Januar georgische Soldaten in Fahrzeugen der Bundeswehr. Denn dazu ist das Kontingent von 850 Soldaten, das die Politiker in Berlin beschlossen haben, zu gering.
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