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Bundestagswahlkampf der Berliner GrünenVorwürfe gegen Parlamentarier

Die Grünen wählen erneut Lisa Paus an die Spitze ihrer Landesliste. Pankows Bundestagsabgeordneter Gelbhaar zieht seine Bewerbung überraschend zurück.

Die Berliner Grünen haben am Samstag ihre Kan­di­da­t:in­nen­lis­te für den Bundestag beschlossen Foto: Marijan Murat/dpa

Berlin taz | Gleicher Ort, gleiches Thema, nur die Parteifarbe ist eine andere am Samstagmorgen in einem Moabiter Tagungshotel. Wo am Donnerstagabend das Hellblau der Berliner CDU dominierte, stellen am Samstag auch die Grünen ihre Kandidatenliste für die Bundestagswahl am 23. Februar auf. Wie bei der CDU dominieren West-Kandidaten die Liste, die wie 2021 und 2017 Lisa Paus anführt, inzwischen Bundesministerin. Dahinter folgen der Neuköllner Andreas Audretsch, der auch Bundeswahlkampfleiter ist, und Landeschefin Nina Stahr aus Steglitz-Zehlendorf. Gegen Stefan Gelbhaar aber, der wieder prominent den Osten vertreten wollte, gibt es Vorwürfe – er zieht seine Listenbewerbung zurück.

Ursprünglich war eine Kampfabstimmung zwischen ihm und Audretsch erwartet worden, die Kollegen in der Grünen-Bundestagsfraktion sind. Denn auch Gelbhaar hatte eine Bewerbung für Listenplatz 2 eingereicht, auf dem er bereits 2021 antrat. Damals gewann er in Pankow als bundesweit einziger Grüner einen Ost-Wahlkreis. Bei der Teil-Wiederholungswahl im Februar dieses Jahres hatte er gegen den Trend sein Ergebnis noch verbessert.

Ein erneuter Sieg im Wahlkreis Pankow galt daher und angesichts aktueller Umfragen als sehr wahrscheinlich, so dass Gelbhaar keinen sicheren Listenplatz benötigte, um wieder in den Bundestag zu kommen. Doch für Gelbhaar war Platz 2, der erste auf der Grünen-Liste für Männer mögliche Platz, auch ein Zeichen der Wertschätzung Richtung Osten der Stadt

„Mich treibt es um, eine Berliner, eine Ostberliner Perspektive einzubringen“, sagte Gelbhaar der taz wenige Tage vor dem Parteitreffen. Als politisches Vorbild nennt er auf der Internetseite der Bundestagsfraktion keinen Grünen, sondern die verstorbene Brandenburger SPD-Politikerin Regine Hildbrandt, Exministerin und als „Mutter Courage des Ostens“ bekannt geworden.

Überraschender Rückzug von Listenkandidatur

Doch um 10:53 Uhr, sieben Minuten vor dem offiziellen Beginn im Moabiter Tagungshotel, landet eine Nachricht von Gelbhaar im E-Mail-Posteingang der taz und weiterer Journalisten: Er werde nicht für Listenplatz 2 kandidieren, „denn in den letzten Tagen sind Vorwürfe gegen mich erhoben worden.“ Konkreter beschreibt er die Vorwürfe nicht. Das müsse parteiintern geklärt werden und das wolle er jetzt erst klären. „Ich werde aktiv daran mitarbeiten, hier für Klärung zu sorgen.“ Gelbhaar verweist dazu auf „geordnete Strukturen bei der Ombudsstelle in der Bundesgeschäftsstelle“. Diese Stelle sei eine Ombudsstelle gegen sexualisierte Gewalt“, erklärt es der Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Werner Graf, gegenüber der taz.

Als einziger Kandidat für Platz 2 verbleibt so Audretsch, der 2021 auf Listenplatz 4 antrat. Der wäre bei der kommenden Wahl für ihn wacklig gewesen. Die Grünen kamen zwar bei der jüngsten Umfrage im November genau auf ihr Rekord-Wahlergebnis von 2021, als es knapp für sieben Bundestagssitze reichte. Durch die Verkleinerung des Bundestagstag von jetzt 738 auf künftig 630 Sitze blieben davon, wenn es auch am 23. Februar so gut für die Grünen läuft, nur noch höchstens sechs. Der letzte davon wäre alles andere als sicher.

Nach jetzigem Stand könnten die Berliner Grünen wieder drei der zwölf Wahlkreise gewinnen, die weitgehend identisch mit den Stadtbezirken sind: Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und eben Pankow. Damit wären drei weitere Parlamentssitze über die Liste zu besetzen, mit Spitzenkandidatin Paus und zwei weiteren.

Die Frage vor diesem Parteitag war daher: Wer würde auf dem wackligen letzten dieser drei Plätze sitzen? Audretsch, der von Platz 4 auf 2 aufrücken wollte? Oder Nina Stahr, die Ende 2023 auf Bitten der Partei wieder Landesvorsitzende wurde, wie schon von 2016 bis 2021? Sie hatte eine Bewerbung für den für Frauen reservierten Listenplatz 3 eingereicht.

Kampfabstimmung bleibt durch Rückzug aus

Durch Gelbhaars Rückzug von der Listenkandidatur kommt der Landesverband um eine Kampfabstimmung herum, die in mehrfacher Form Fronten in der Partei hätten verhärten können: West gegen Ost, linker Parteiflügel, zu dessen führenden Köpfen Audretsch gehört, gegen Realos.

Hintergründe zu seinem Rückzug von der Kandidatur mag Gelbhaar in seiner E-Mail nicht nennen, weil Vertraulichkeit zentral für das weitere Vorgehen sei. „Daher bitte ich von weiteren Anfragen abzusehen, aus Respekt vor dem Verfahren wie vor mir als Person und meiner Familie“, schreibt er.

Dass es Vorwürfe gegen Gelbhaar gibt, kursiert laut Fraktionschef Graf, dem linken Parteiflügel zuzuordnen, seit Wochenbeginn. Gelbhaars Bewerbungsschreiben für Platz 2 auf der Grünen-Plattform „Antragsgrün“ datiert von Montagmittag um 13:29 Uhr. Üblicherweise gut informierte Vertreter des Realo-Flügels wollen hingegen am Freitag erstmals davon gehört haben.

Als Direktkandidat im Wahlkreis hatten die Pankower Grünen Gelbhaar am 12. November gewählt. Der dortige Kreisvorsitzende sagte damals über die Nominierung: „Stefan Gelbhaar steht für einen aktiven Austausch mit den Menschen vor Ort und für eine klare Haltung zu sozialem Klimaschutz und für zukunftsweisende Investitionen in Mobilität – er ist ein starker Vertreter für Pankow im Bundestag.“

Keine Aufklärung durch Tagungsleitung

Die Grünen-Tagungsleitung am Samstag in Moabit erwähnt den Rückzug nicht, als es um die Besetzung von Listenplatz 2 geht, obwohl die Bewerbung zur selben Zeit noch unter „Antragsgrün“ zu finden ist. Auch Audretsch geht in seiner Bewerbungsrede nicht darauf ein. Er erhält bei einem Meinungsbild, das im Grünen-Landesverband der offiziellen Abstimmung über die Liste voraus geht, ein besseres Ergebnis als die Spitzenkandidatin Paus: Für ihn stimmen knapp 89 Prozent, für Paus nur 76 Prozent. Die Bewerbung der Landesvorsitzenden Stahr unterstützen 83 Prozent.

Ob Gelbhaar seine Bewerbung als Direktkandidat aufrecht hält, bleibt bis Samstagnachmittag offen. Abgabeschluss für Kandidatenlisten und Wahlkreisvorschläge ist erst am 20. Januar. Auch zu hören ist, dass Gelbhaar Freitag geäußert haben soll, er wissen weder, von wem die Vorwürfe stammen noch den konkreten Inhalt. Der RBB zitiert mittags die Grüne-Jugend-Chefin Leonie Wingerath mit der Forderung, Gelbhaar solle auch seine Direktkandidatur zurückziehen. Es sei wichtig, den Betroffenen erstmal Glauben zu schenken und sich darum professionell zu kümmern, gibt sie der Sender wieder.

Der Landesparlamentarier Andreas Otto, wie Gelbhaar aus Pankow und mit ihm von 2011 bis 2017 zusammen in der Abgeordnetenhausfraktion, sieht die Lage anders. „Für mich gilt erstmal die Unschuldsvermutung“, sagt er der taz. „Gut wäre es gewesen, wenn die Ombudsstelle bis 10:59 Uhr (also vor Parteitagsbeginn und folgendem Listenbeschluss, d. taz) schon Ergebnisse hätte vorlegen können.“

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18 Kommentare

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  • Der Artikel im RBB wurde übrigens gelöscht, oder der Link ist der falsche

  • Es geht wohl um nicht näher erläuterte Vorwürfe sexueller Belästigung, die dort untersucht werden. Alles noch ziemlich unklar, was man auch hieran sieht:



    " .... Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes war die Co-Sprecherin der Grünen Jugend Berlin ausführlicher zitiert. Sie hat jedoch einen Teil ihrer Aussage kurz danach zurückgezogen. Daraufhin wurde dieserText entsprechend geändert.

    Sendung: rbb24 Inforadio, 14.12.2024, 13:01 Uhr ...."

  • Ich frage mich auch manchmal : merken die PolitikerInnen nicht, dass sie bei den Menschen nicht gut ankommen ? Frau Paus hat in der Bundesregierung sowohl persönlich als auch fachlich einen denkbar schlechten Eindruck hinterlassen. Diesen komfortablen Listenplatz kann ich nicht nachvollziehen.



    Meiner Meinung nach braucht es mehr denn je die richtigen Menschen am richtigen Platz.



    Das betrifft auch PolitikerInnen anderer Parteien.

    • @Ninotschki:

      Eben genau wenn die Amtsführung Fragen zur Kompetenz aufwirft, ist es um so wichtiger, einen sicheren Listenplatz einzunehmen, da eine einträgliche Anschlussverwendung jenseits des unmittelbaren politischen Betriebes mehr als unsicher ist. Dafür muss man doch Verständnis haben!

  • Für mich als Außenstehenden ist es vollkommen unverständlich, dass Frau Paus auf Listenplatz 1 gewählt worden ist. Was ist da los im Landesverband?

    Die Bundesgrünen scheinen mit den Landesgrünen wenig gemein zu haben.

    • @DiMa:

      Wo soll eine Frau Paus außerhalb von Polik und NGO's arbeiten und das vierfache von dem verdienen, was ein normaler Arbeitnehmer so nach Hause bringt?



      Ich will keine Poliker runtermachen aber fachliche Eignung ist schon lange Kriterium mehr. Wie konnte eine Frau von der Leyen so hoch kommen, nachdem sie [persönliche Meinung] auf JEDEM Posten ein Totalausfall war.



      Die Polik hat sich schon lange eine eigene Welt geschaffen und der Bürger steht nur noch kopfschüttelnd an der Seite.



      Die Bürger sagen klar sie mögen einen Scholz nicht und was macht die SPD? Geht mit Scholz in den Wahlkampf.

  • Läuft.

  • Wie man Frau Paus wieder auf Listenplatz 1 setzen kann erklärt sich mir nicht.



    Ganz egal ob man es mit den Grünen hält oder nicht, aber angesichts ihrer 'Leistungen' als Bundesministerin wäre der Platz an eine neue Kraft deutlich besser vergeben.



    Ich verstehe es wirklich überhaupt nicht wie rot und grün stur der Meinung bleiben, mit Habeck, Scholz und nun eben auch Paus den Wählern einen Neuanfang kommunizieren zu wollen.



    An den Umfragewerten tut sich bei allen Parteien dementsprechend seit dem Ampel-Aus auch wenig bis nichts - Merz kanns recht sein, aber was die Idee dahinter bei den noch-Koalitionsparteien ist🤷‍♂️🤷‍♂️🤷‍♂️



    Das eint alle drei ex-Ampelparteien: null Erneuerung, null Selbsthinterfragung, manifestiert im personellen "weiter so" als unübersehbare Kernbotschaft an die Wähler.

    • @Farang:

      Genau und deshalb bekommen wir nach der Wahl Friedrich Merz als Kanzler und Jens Spahn als Wirtschaftsminister, weil der ja schon als Gesundheitsminister überzeugt hat und andere ehemalige Minister die bestimmt überall geglänzt haben.

      • @Ramelow Cathrin:

        Ich bin da voll bei Ihnen - und das ist die große Krankheit all unserer Parteien und unserer Demokratie überhaupt.



        Wenn sowas wie die Leistungen/Machenschaften wie eines Scheuer, Spahn, Lindner, Paus, etc ungestraft bleiben und gar noch mit vollen Gehältern und auch zukünftigen Topämter prämiert statt geahndet werden - dann braucht wirklich keiner mehr fragen woher es kommt das die Politikverdrossenheit immer neue Höchststände erreicht, warum 30% zusammen AfD und BSW wählen.



        Moral und Ethik sind komplett abhanden gekommen - die politischen Ränder können nur so stark performen, weil die Mitte komplett zersetzt ist

    • @Farang:

      Wenn es sich später mal erklären würde, bitte ich Sie, es mir mitzuteilen.



      Es geht mir genau wie Ihnen, aber Gesetze und das Weltgeschehen werden oft ganz einfach erklärt:



      "Der Gesetzgeber / Der liebe Gott wird sich schon etwas dabei gedacht haben".

      Ich musste mich zum aufmerksameren Lesen selbst zur Ordnung rufen: Statt "Merz kanns recht sein" las ich beim ersten Mal "Merz kann rechts sein".

      Bezüglich "weiter so": Ich befürchte auch, dass es so kommt, weil die meisten Menschen panische Angst vor Veränderungen haben, sogar dann, wenn es Verbesserungen wären.

      • @Erfahrungssammler:

        ""Merz kanns recht sein" las ich beim ersten Mal "Merz kann rechts sein".



        Beides ist zutreffend...😉



        ---



        "Bezüglich "weiter so": Ich befürchte auch, dass es so kommt, weil die meisten Menschen panische Angst vor Veränderungen haben"



        Wie sollen Menschen auch 'Lust' auf Veränderung oder Innovation haben, wenn ihnen von den Parteien das genaue Gegenteil vorgelebt wird...🤷‍♂️



        Wie gesagt, die komplette Verlierergarde der Ampel tritt ohne Reue wieder an - Lindner, Scholz, Habeck - und ihre Minister direkt mit.



        Die Message ans Volk 'wir können es verbocken wie wir wollen, wir machen stumpf weiter'.



        Hätten die Parteien oder die betroffenen Politiker noch ein Fünkchen Ehre oder Anstand im Leib, wäre ein Lindner beispielsweise achtkant aus der Partei geschmissen worden nach diesem Gewaltakt gegenüber der Demokratie im Ganzen. Auch bei Habeck und Scholz fehlt eigentlich jegliche 'Leistung' die zum Weitermachen qualifizieren - und bei Frau Paus ist eigentlich, wie es anderswo in diesem Strang von jemandem kommentiert wurde, nur die Frage offen: hat sie Andi Scheuer abgelöst als schlechteter Bundesminister ever🤷‍♂️

  • Die Ministerin, die für mich, den schlechtesten Minister Scheuer abgelöst hat ist gut genug für den Listenplatz 1. Entweder sie ist besser als ich denke oder die Grünen haben niemanden der besser ist, was bedenklich wäre.

    • @Hitchhiker:

      Paus ist eine Hassfigur für die Leute, die Deutschlandfahnen und ggfs Nationalhymne und Vaterunser in den Klassenzimmern sehen wollen.

      • @Ajuga:

        Ich weiß nicht, ob das so ist. Aber selbst wenn, wird dadurch Frau Paus nicht zu einer besseren, oder gar erfolgreichen Ministerin.

        Die grundsätzlich gute Idee der Kindergrundsicherung dadurch zu versemmeln, daß der von ihr zu verantwortende Gesetzentwurf tausende neue Stellen schaffen sollte - wo sicher auch manche Grüne gut untergekommen wären - spricht nicht für die politischen Talente der Dame.

        Man kann und sollte Frau Paus, oder Frau Roth, gegen dumme Polemik und Hasskommentare verteidigen, aber nicht um den Preis, ihre Schwächen zu vertuschen. Das spielt nur dem politischen Gegner in die Hände.

      • @Ajuga:

        Ist das die Grüne Erklärung?

        Und was sind die Gründe für das Unverständnis hier im forum? Ich vermute mal das niemand hier sich dieses Klassenzimmer wünscht.

        Oder einfach sagen warum Frau Paus für Listenplatz eins qualifiziert ist. Ich verstehe es nämlich nicht.

      • @Ajuga:

        Sie ist schlicht unfähig! Und das ist für jeden ein Problem!

      • @Ajuga:

        Nee - damit hat das nun wirklich nichts zu tun.



        Frau Paus hat sich fachlich diskreditiert.



        Sie hat es in all den Jahren nicht geschafft einen vernünftigen Finanzierungsplan für das Kindergrundsichrungsprogramm aufzustellen. Darüberhinaus hat sie es nicht geschafft, eine klare Aufgaben- und Personalstruktur für die operative Abwicklung der gebündelten Auszahlungen aufzustellen und die sich daraus ergebenden Synergieeffekte auszuweisen.



        Das hat auch nicht annähernd etwas mit "Hassfigur" sondern gan einfach mit grottenschlechter handwerklicher Arbeit zu tun.