Bundestagswahl in Berlin: Die Linke räumt ab in der Hauptstadt
Die jüngst noch abgeschriebene Partei wird Nr. 1. Grüne gewinnen drei Wahlkreise, einen mit nur 61 Stimmen Vorsprung. Erstes Direktmandat für AfD.
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Vor dem Wahltag schien das nur in Treptow-Köpenick sicher möglich. Dort holte Gregor Gysi, der hier seit 2005 regelmäßig gewann, das berlinweit beste Erststimmenergebnis mit rund 42 Prozent – fast so viel wie die Kandidaten von AfD, CDU und SPD als Nächstplatzierte zusammen.
Für die Grünen ist der Abend dagegen richtig hart. Sie können zwar erneut ihre Kandidat:innen in Pankow und Mitte durchbringen, dazu neu auch in Tempelhof-Schöneberg, verlieren aber ihre Hochburg Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost klar an die Linke.
Die größte Überraschung des Wahlabends in Berlin – und darüber hinaus – gelingt dem Linken Ferat Koçak in Neukölln. Mit mehr als 30 Prozent der Erststimmen fährt er einen Erdrutschsieg in einem Bezirk ein, in dem die Linke noch bei der letzten Bundestagswahl nur rund halb so viel Stimmen wie die dort erfolgreiche SPD errang. Nun hat sich das Ergebnis ins Gegenteil verkehrt. Erstmals überhaupt gelingt es damit der Linken, einen Wahlkreis im ehemaligen Westteil der Republik zu gewinnen.
Popkonzert-Stimmung bei der Linken Neukölln
Als Koçak vom ersten Auszählungsstand hört, sitzt er in einer Pressekonferenz mit einem Dutzend Journalist:innen. Gerade sprach er angesichts der bundesweiten Ergebnisse von CDU und AfD noch von bevorstehenden „dunklen Zeiten“, nun kann er es kaum glauben: „Ich bin überwältigt.“
In dem Moment dringt in den Raum der Jubel der 900 Menschen auf der Wahlparty, die die Linke Neukölln in einem Veranstaltungssaal südlich des Tempelhofer Feldes organisiert hat. Es herrscht Stimmung wie auf einem Popkonzert. „Wir haben hier heute verdammt noch mal Geschichte geschrieben“, ruft Koçak bei seiner Siegesansprache.
Dem Ergebnis zugrunde liegt der größte Haustürwahlkampf in der bundesrepublikanischen Geschichte. Hunderte Unterstützer:innen von Koçak haben wochenlang an insgesamt 139.000 Haustüren geklopft, etwa zwei Drittel aller in Neukölln. Dabei wurden 51.000 Gespräche geführt und 11.000 Wahlzusagen eingesammelt.
„Egal, wie es ausgeht, es war und ist jetzt schon ein Erfolg. Wir haben Neukölln zum Beben gebracht“, hatte Koçak in einer kurzen Ansprache noch vor den ersten Bezirksergebnissen gesagt. Dann skandierte er zusammen mit dem Publikum „Alerta, Alerta, Antifascista“.
Nur Gysis Sieg galt als sicher
Für die Berliner Linke ist der Abend ein durchschlagender Erfolg. Neben Neukölln holt sie weitere drei Direktmandate allein in Berlin. Vor der Wahl noch hatte die Linke bundesweit auf drei Direktmandate gehofft, um für den Fall, dass sie unter fünf Prozent der Zweitstimmen bleibt, trotzdem in den Bundestag einziehen zu können. Die 5-Prozent-Hürde ist in diesem Fall aufgehoben, bereits 2021 hatte das die Partei im Bundestag gehalten. Als sicher galt einzig der Sieg von Gregor Gysi in Treptow-Köpenick.
Überraschend gewinnen noch zwei weitere Linken-Kandidat:innen ihre Wahlkreise. Eben in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, wo sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser gegen seine Grüne-Konkurrentin Katrin Schmidberger durchsetzt. In Lichtenberg wiederum schlägt die Bundesparteivorsitzende Ines Schwerdtner die AfD-Kandidatin Beatrix von Storch deutlich.
Auch in Mitte lag die Linke zwischenzeitlich bei den Erststimmen vorn. Das drehte sich dann. 2021 hatte Hanna Steinmüller von den Grünen den Wahlkreis mit klarem Vorsprung gewonnen. Sie muss dieses Mal lange zittern, liegt lange hinter ihrer Linke-Konkurrentin Stella Merendino zurück, aber am Ende knapp vorn. Merendino wird trotzdem in den Bundestag einziehen – über die Landesliste der Linken.
Auf Rang 3 und klar abgeschlagen folgt im Wahlkreis Mitte die Bundestagsabgeordnete Annika Klose für die SPD, die zusammen mit ihrem Kollegen Ruppert Stüwe aus Steglitz-Zehlendorf das Spitzenduo der Berliner Sozialdemokrat:innen gebildet hatte.
Beim Treffen des SPD-Kreisverbands Mitte in der Bar Supersonico unweit des Mauerparks ist die Stimmung trotzdem durchaus heiter. „Wir sind überzeugt, dass wir gute Antworten haben“, hatte die Parteilinke Klose kurz vor der 18-Uhr-Prognose zu den Wahlkämpfer:innen des selbst für hauptstädtische Verhältnisse noch einmal besonders linken Kreisverbands. Es gehe darum, die Menschen zu überzeugen. „Nur leider gelingt uns das nicht immer.“
„An unserem Wahlkampf hat es nicht gelegen“
In der Tat: Mit nur etwas mehr als 16 Prozent hat die Partei bundesweit ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren. Als der SPD-Balken um 18 Uhr auf dem Bildschirm erscheint, herrscht Stille. Annika Klose sagt später für ihren Kreisverband: „An unserem Wahlkampf hat es nicht gelegen.“ Auch Klose wird über die Landesliste ihrer Partei weiter dem Bundestag angehören.
Dass die SPD insgesamt derart abschmiert, hatte sie befürchtet, sagt Klose zur taz. Die Partei habe bundespolitisch zu wenig durchgesetzt und könne so nicht weitermachen. „Wir sind krachend abgewählt worden. Wenn es am Ende des Wahlabends andere Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gibt als die SPD, dann sollten wir daraus die Konsequenz ziehen.“ Und die hieße dann: Oppositionsbank.
Am Ende des Wahlabends ist auch klar: Es wird keine andere demokratische Zweieroption geben im Bund als Schwarz-Rot – mit einer schwer gerupften SPD als Juniorpartner.
Noch bei der Aufstellung der SPD-Landesliste im Dezember hatte Berlins SPD-Chefin Nicola Böcker-Giannini die Parole ausgegeben, dass die Wahl für die Sozialdemokrat:innen längst nicht gelaufen sei. Damals stand die Partei in Umfragen bei 14 Prozent. „Wie Aufholjagd geht, wissen wir, da macht uns niemand etwas vor“, versuchte sich Böcker-Giannini als Mutmacherin. Geholfen hat es kaum.
SPD-Chefin Böcker-Giannini: Partei ist am Scheideweg
Nach der Klatsche am Sonntag sieht Böcker-Giannini ihre Partei am Scheideweg: Entweder könne die Partei „unseren Anspruch, führende Mitte-Links Volkspartei zu sein, glaubhaft unter Beweis stellen und sich entsprechend neu aufstellen oder sie wird bedeutungslos werden“.
Bitter ist der Abend bei der SPD vor allem auch für einen: den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Michael Müller, der wie Klose und Stüwe seit 2021 im Bundestag sitzt. Wäre es nach ihm und seinem Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf gegangen, hätte Müller auf der Landesliste ganz oben gestanden. Der Einzug in den nächsten Bundestag wäre ihm damit sicher gewesen.
Allein, die Parteilinke hatte andere, nämlich eigene Pläne, Müller ging bei der Landesliste leer aus. Seine letzte Chance ist das 2021 erstmals gewonnene Direktmandat in Charlottenburg-Wilmersdorf. Am Abend zeichnet sich im Westbezirk bei den Erststimmen zwar ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab zwischen dem weithin unbekannten Rechtsanwalt Lukas Krieger für die CDU, Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen und dem Ex-Regierenden Müller. Recht bald ist dann klar: Krieger gewinnt, Müller ist raus aus dem Bundestag.
Eine Überraschung gelingt der SPD immerhin im Wahlkreis Spandau-Charlottenburg Nord: Im Laufe des Abends zieht der ehemalige Bezirksbürgermeister von Spandau, Helmut Kleebank, an seinem CDU-Konkurrenten Bernhard Schodrowski vorbei und verteidigt sein 2021 erstmals gewonnenes Bundestagsmandat. Es ist berlinweit das einzige Direktmandat für die SPD.
Grünen-Sieg mit 61 Stimmen
Das spannendste Rennen des Wahlabends lieferten sich in Tempelhof-Schöneberg der Spitzenkandidat der Berliner CDU, Jan-Marco Luczak, und der Grüne Moritz Heuberger. Am Ende der Wahlkreis-Auszählung um 22.15 Uhr lag Heuberger 0,1 Prozentpunkte oder lediglich 61 Stimmen vor Luczak. Auch der kann allerdings über die Landesliste seiner Partei erneut in den Bundestag einziehen.
Czaja verliert nach langer Auszählung
In Marzahn-Hellersdorf sah es lange so aus, als ob der frühere Sozialsenator Mario Czaja (CDU) seinen 2021 erstmals gewonnenen Wahlkreis verteidigen könnte. Erst mit den letzten ausgezählten Stimmpaketen und erst lange nach 23 Uhr fiel er hinter den AfD-Kandidaten Gottfried Curio zurück, der schließlich nur 481 Stimmen Vorsprung hatte.
Das Rennen so lange offen gehalten zu haben, konnte sich Czaja selbst zuschreiben – bei den Zweitstimmen kam die CDU auf nur wenig mehr als halb so viele Stimmen wie die AfD. Für die ist es der erste Wahlkreiserfolg in Berlin. Der war zuvor in Lichtenberg durch Beatrix von Storch erwartet worden, wo jedoch die Linke-Bundesvorsitzende Schwerdtner gewann.
Insgesamt liegt die Linke damit in Berlin nicht bloß bei den Zweitstimmen, sondern auch bei der Zahl der gewonnenen Wahlkreise vorn. Bei ihr sind es vier, bei den Grünen und bei der CDU jeweils drei und bei SPD und AfD je einer.
Aktualisierung: 24.2.2028, 8.00 Uhr
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