piwik no script img

Bundestag gedenkt Shoah-TotenAn die vergessenen Opfer erinnern

Vor 78 Jahren befreite die Rote Armee das NS-Vernichtungslager Auschwitz. Beim Gedenken im Bundestag ging es diesmal insbesondere um queere Opfer.

Rozette Kats, Zeitzeugin nach ihrer Rede im Bundestag Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Berlin taz | „Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen.“ Rozette Kats spricht von ihrem Schicksal, als jüdisches Kind unter falscher Identität die Nazi-Herrschaft in Amsterdam überlebt zu haben, während ihre Familie in Auschwitz ermordet wurde. Doch die heute 80-Jährige bezieht sich bei ihrer Rede im Bundestag auch auf die Erfahrung die andere, queere Menschen in der Nazi-Zeit machten und teils auch heute noch machen.

Es ist ein besondere Gedenkstunde, bei der Kats am Freitag im Bundestag spricht, 78 Jahre nach der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz durch die rote Armee. Zum ersten Mal wird im deutschen Parlament explizit an die queeren Opfer der NS-Politik erinnert.

Queers drohte im Nationalsozialismus der Tod. Und unter denen die deportiert und ermordet wurden, weil sie jüdisch waren oder zu anderen Minderheiten gehörten, befanden sich weitere teils unerkannte Lesben, Bisexuelle, Schwule und trans Personen.

Ihre Schicksale werden an diesem Freitag im Bundestag anhand zweier Einzelpersonen verdeutlicht. Schauspielerin Maren Kroymann liest einen Text zu der Jüdin Mary Pünjer die 1942 in der sogenannten Tötungsanstalt Bernburg vergast wurde. Vermerkt auf ihrer Akte: „Lesbierin“. Offiziell interniert war sie aber als sogenannte „Asoziale“. Anders als männliche Homosexualität war lesbische Orientierung nicht per se strafbar, unter dem Begriff „asozial“ wurden diese Frauen aber dennoch verfolgt.

Homofeindliche Gesetze auch nach 1945

Den Text zu Pünjer hat der Historiker und taz-Autor Lutz van Dijk verfasst, der sich seit Jahren für mehr Sichtbarkeit der queeren Opfer in der öffentlichen Erinnerung an die Nazi-Verbrechen einsetzt. Von ihm stammte auch der Text zu Karl Gorath, dessen Schicksal Schauspieler Yannik Schümann im Bundestag vorstellt.

Ab 1934 immer wieder verurteilt wegen seiner Homosexualität, wurde Gorath 1943 nach Neuengamme und schließlich nach Auschwitz deportiert. Gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebte er. Doch das Ende der Nazi-Herrschaft bedeutete zwar das Ende des systematischen Mordens, nicht jedoch das Ende der juristischen Verfolgung schwuler Männer.

Schon 1946 wurde Gorath erneut verurteilt, diesmal zu fünf Jahren Zuchthaus. Das Urteil fällte derselbe Richter, der Gorath schon in der NS-Zeit verurteilt hatte. Und wie zuvor basierte die Strafe auf Paragraph 175, der männliche Homosexualität für illegal erklärte. Im Kaiserreich 1871 eingeführt, unter den Nazis verschärft, galt das Gesetz in der Bundesrepublik weiter. Erst 1994 strich der Bundestag den Paragraphen.

An diese Kontinuität der gesetzlich verankerten Homophobie erinnert am Freitag auch Klaus Schirdewahn, der 1964 als 17-Jähriger verhaftet und auf Grundlage von Paragraph 175 verurteilt wurde. Einer Haftstrafe entging er nur, weil er eine vermeintliche Therapie begann, die ihn von seiner Homosexualität „heilen“ sollte, wie es damals hieß. „Das Gift des nationalsozialistischen Familienbildes wirkte nach“, so Schirdewan in seiner emotionalen Rede.

„Eine Schande für unser Land“

Tiefe Traurigkeit geht am Freitag auch von den Liedern aus, die Transkünstlerin Georgette Dee mit Klavierbegleitung singt. Geschrieben in den 20er Jahren verboten die Nationalsozialisten die Songs. Jetzt sind sie wieder zu hören.

Den großen Bogen von der Verfolgung queerer Personen über die Mordpolitik der Nazis insgesamt bis zur Gegenwart spannt am Freitag Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Im Schnitt gebe es pro Tag fünf antisemitische Übergriffe in Deutschland. „Das ist eine Schande für unser Land“, so Bas, die auch auf erneut stärker werdende Homofeindlichkeit hinweist.

Auch wegen der Kontinuität der menschenverachtenden Ideen bis heute brauche es „eine lebendige Erinnerungskultur“. Bas sagt auch, was offensichtlich ist, aber so oft doch in Frage gestellt wird: „Es kann keinen Schlussstrich geben.“

Nazi-Deutschland ermordete ab etwa 1941 rund sechs Millionen Jüd*innen, zunächst vor allem durch Erschießung später mit industriellen Methoden in Vernichtungslagern. Das größte dieser Mordzentren war der Komplex Ausschwitz Birkenau im besetzten Polen.

Auch Angehörige anderer Minderheiten wurden von den Nazis verfolgt und systematisch ermordet, so etwa Sin­ti*­ze und Rom*nja, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderung. Die Nazis ermordeten zudem mindestens drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, ließen sie bewusst verhungern oder an den Zuständen in den Lagern absichtlich zu Tode kommen.

Der von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg kostete weltweit mindestens 60 Millionen Menschen das Leben. Viele Täter aus dem NS-Mordapparat lebten nach Kriegsende unbehelligt weiter und machten in der Bundesrepublik Karriere.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Fünf Buchstaben



    Morden, Morden und Morden, nicht enden wollendes Morden und Morden und Morden. Zehntausende tun es, Hunderttausende helfen ihnen dabei, Millionen applaudieren und die restlichen Millionen schauen weg. שואה, zwei Silben, [ʃoˈʔaː] , in englisch-lateinischer Transkription 5 Buchstaben: SHOAH. Damit passt das ganze auch in flüchtige Nebensätze, lässt sich schnell mal ausprechen, ohne dass mensch sich recht vor Augen führen muss, für was es steht. Von den Überlebenden leihen wir uns ein kleines Wort: SHOAH. Dürfen wir das?

  • Ein würdiges Gedenken!



    Eva Erben (90) hat mich sehr beeindruckt.



    ... Der Antisemitismus, das sei eine chronische Krankheit, „er würde auch noch existieren, wenn alle Juden nur noch auf dem Mond leben würden“. Gegen diese Dummheit, so Erben, könne man auch nicht kämpfen, „gegen Blödheit ist kein Kraut gewachsen“. Eher helfe das Erzählen dagegen. Das in Israel zu tun, mache allerdings keinen Sinn. „Man muss das in Deutschland erzählen.“....



    Zum Glück gab’s diese Kuh



    www.zdf.de/dokumen...diese-kuh-100.html