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Bürgerrechtler über Proteste in Polen„Wir sind die Arbeitgeber der Politik“

Mateusz Kijowksi vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ über Lech Walesa, die Diktatur der Mehrheit und den Aufbau der Zivilgesellschaft.

„Wir, das Volk“ gegen die Macht der politischen Mehrheit im Parlament. Foto: dpa
Interview von Gabriele Lesser

taz: Immer mehr Menschen protestieren in Polen gegen die Politik der gerade mal seit Monaten regierenden Recht und Gerechtigkeit. Wie viele waren es diesmal in Warschau ?

Mateusz Kijowksi: Die Polizei sagt 15.000, die Warschauer Stadtverwaltung geht von rund 80.000 aus, und wir – als noch sehr junge Organisation – sind noch nicht fertig mit dem Zählen. Aber alle zusammen, also die Warschauer und die aus ganz Polen mit Bahn und Bus angereisten Demonstranten, das können gut und gerne bis zu 200.000 Leute gewesen sein. Wir wollten diesmal zeigen, dass wir viele sind. Dass sich im ganzen Land Widerstand regt gegen den Demokratieabbau in Polen. Dass die Regierung, aber auch ganz Europa und die Welt künftig mit unserer Oppositionsbewegung „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD) rechnen müssen. Das ist uns mit dieser Großdemonstration gelungen.

„Wir, das Volk“ skandierten die Leute immer wieder. Das haben die Polen noch nie gerufen. Warum jetzt?

1989 hielt Lech Walesa, der Anführer der Gewerkschaft- und Friedensbewegung Solidarnosc, eine bis heute berühmte Rede im amerikanischen Kongress. Er begann sie mit den Worten „Wir, das Volk“, berief sich also ganz klar auf die amerikanische Verfassung und verband so den polnischen Freiheitswillen mit dem amerikanischen Traum von einem besseren Leben. Das Motto unserer Demonstration hat mit den aktuellen Angriffen auf Walesa zu tun, aber auch mit dem Abbau der Demokratie in Polen.

Bislang lacht die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) über die Demonstrationen. Wie reagieren Sie auf das PiS-Argument, dass „die Demonstrationen doch am besten zeigen, wie gut die Demokratie in Polen“ funktioniere?

Die PiS, die ja auch die absolute Mehrheit im Parlament stellt, hat das Verfassungsgericht lahmgelegt. Das ist so, als würde man aus einem Auto die Bremsen ausbauen und während der Fahrt auf der Autobahn sagen: „Alles prima, das Auto fährt doch! Und die Bremsen? Wozu Bremsen?“ Das polnische Verfassungsgericht kann zur Zeit umstrittene Gesetze nicht überprüfen, wie etwa das über die öffentlich-rechtlichen Medien, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft die Erweiterung der Geheimdienstbefugnisse. Das Verfassungsgericht ist unsere Bremse vor den Gefahren einer parlamentarischen Mehrheit, die sich nur noch für die Macht interessiert. Ohne Verfassungsgericht kann unser liberale Demokratie ganz leicht in eine Diktatur der Mehrheit abdriften.

Was kann KOD neben den Demonstrationen noch tun?

Das ist so, als würde man aus einem Auto die Bremsen ausbauen und während der Fahrt auf der Autobahn sagen: Alles prima, das Auto fährt doch! Und die Bremsen? Wozu Bremsen?

Die Demonstrationen sind ein Signal an die Welt, dass in Polen etwas schief läuft. Aber unser zentrales Ziel ist die Schaffung einer Zivilgesellschaft mündiger Bürger. Als wir 1989 die Freiheit und Souveränität wiedererlangt hatten, gab es ein paar ganz klare Ziele: Systemtransformation, Wiederaufbau der Wirtschaft. Mitgliedschaft in der EU und NATO . Darüber haben wir aber etwas Wichtiges vergessen: „Wer sind wir, und wer wollen wir sein?“ Darüber müssen wir uns erneut Klarheit verschaffen.

Stimmten die Polen in den Wahlen nicht für den Wandel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr nationalem Ansehen in der Welt?

Das war nur ein Teil der Gesellschaft. Das Problem ist, dass die polnische Gesellschaft inzwischen so gespalten ist, dass es keinen sinnvolle Dialog mehr gibt. An die Stelle von Argumenten sind Beleidigungen und Intrigen getreten. Das befördert die Entpolitisierung vieler Menschen. Sie ziehen sich enttäuscht vom öffentlichen Leben zurück. Wir von KOD wollen einen neuen Dialog eröffnen und den Leute klarmachen, dass sie selbst Einfluss auf die Politik in diesem Land nehmen können.

Wie wollen Sie auf jemanden zugehen, der ihnen auf den Kopf zusagt, dass Sie ein „Pole der übelsten Sorte“ sind, weil sie mit ausländischen Journalisten reden?

Ja, es ist schwer. Aber der Weg zu einem erneuten Dialog kann nur sein, sich besser zuzuhören. Was also meint der PiS-Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski mit diesem Satz?. Möglicherweise steckt ja mehr hinter dieser Beleidigung, als wir zunächst denken.

Bild: dpa
Im Interview: Mateusz Kijowski

Der polnische Informatiker engagiert sich seit Jahren für soziale Anliegen. Im November 2015, nur einen Monat nach der Parlamentswahl in Polen, gründete er im sozialen Netzwerk Facebook eine Gruppe mit dem Namen "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (KOD). Eigentlich ging es nur darum, sich in einer Gruppe Gleichgesinnter auszutauschen und Belege für den Verfassungsbruch und Demokratieabbau durch die aktuelle Regierung zu sammeln. Doch dann traten der Gruppe zehntausende Polen bei, so dass innerhalb von wenigen Tagen eine Bürgerrechtsbewegung entstand, die seither mit Demonstrationen auf die Missstände im Land aufmerksam macht.

Wer engagiert sich in KOD?

Das sind Leute, die dem Abbau der Demokratie in unserem Land nicht tatenlos zusehen sollen. Am 19 November 2015 gründete ich eine Facebook-Gruppe, die den Nerv der Zeit getroffen hatte. Immer mehr Menschen schlossen sich an. Inzwischen sind rund um KOD in ganz Polen rund 20.000 Menschen aktiv.

Gibt es bereits feste Strukturen?

Noch ist alles in Bewegung, doch es gibt bereits spontan entstandene Regional- und Stadtgruppen, die ein Netzwerk bilden. Wir haben das „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ inzwischen auch offiziell bei Gericht registriert, so dass wir in Kürze Vereinswahlen in Warschau und ganz Polen abhalten können. In zwei bis vier Monaten sollten wir dann eine großes Treffen aller Delegierten organisieren, um KOD eine stabile Struktur zu geben.

Wie finanziert sich KOD bislang?

Angefangen haben wir mit Crowdfounding im Internet, danach haben wir eine öffentliche Spendenaktion gestartet, die man beim Innenministerium anmelden muss. Und auf einer unserer Demos haben wir Sammelbüchsen getestet, die sich ebenfalls sehr gut bewährt haben. Die Leute wollen uns unterstützen und spenden sehr gerne. Aus diesem Grund ist uns auch wichtig, dass alles genau und offiziell abgerechnet wird.

Gibt es schon eine Zukunftsvision? Soll KOD eine Partei werden?

Auf gar keinen Fall. Wir sind eine Bürgerrechtsbewegung, und das wollen wir bleiben, auch über die nächsten Wahlen hinaus. Wir möchten unter den Polen das Bewusstsein dafür schärfen, dass sie als Staatsbürger die Arbeitgeber der Politiker sind, die als Saisonarbeiter innerhalb von vier Jahren bestimmte Aufgaben und Projekte erledigen sollen. Der Souverän ist und bleibt das Volk, auch nach den Wahlen. Wir wollen dies den Menschen bewusst machen, also eine eine wirkliche Zivilgesellschaft schaffen.

Wenn aber nach den nächsten Wahlen in Polen die Demokratie wieder vollständig etabliert ist, wird KOD dann überflüssig?

Nein. Den künftigen Politikern könnte der vorgefundene Zustand ja gefallen. Ich denke, wir haben jetzt begriffen, dass Demokratie nicht einfach gegeben ist, sondern aktiv von möglichst vielen Staatsbürgern mit Leben erfüllt und – wenn nötig – auch verteidigt werde muss. Das wird die Aufgabe von KOD sein.

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1 Kommentar

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  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Samuel Pereira, einer der jungen unabhängigen polnischen Journalisten, nennt die Proteste von KOD den "Marsch der Satten", indem Teile der Eliten durch diese Bewegung das (auch materielle) Status Quo der vergangenen 8 Jahre verteidigen möchten.