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Bürgermeister über Ostdeutschland„Wir machen hier betreutes Sterben“

Die Zukunft Ostdeutschlands liegt in den Händen der BürgerInnen, sagt Dirk Neubauer. Er kritisiert das „Überkümmern“ um Ostdeutsche.

Herbstidylle in Sachsen: 4500 Einwohner:innen wohnen um das Schloss Augustusburg Foto: Edith Czech/ddp
Michael Bartsch
Interview von Michael Bartsch

taz: Herr Neubauer, in Ihrem Buch loben Sie die „großartige Wiedervereinigung“, obschon Sie deren Folgen auf das Gemüt der Ostdeutschen kritisieren.

Dirk Neubauer: Das Verrückte ist, dass das aus meiner Sicht tatsächlich stimmt. Leider verbieten wir uns oft den Stolz darauf, dass wir es geschafft haben, an der bestbewachtesten Demarkationslinie der Blöcke friedlich etwas so zu drehen. Ein Fehler aber war unser bis heute anhaltendes Bemühen, Westdeutsche zu werden und den Westen nachzubauen. Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht emanzipieren können.

Ist das nicht erklärlich, weil wir 1989 unvorbereitet in den Sturz der SED-Herrschaft stolperten, ohne eine eigene Alternative gehabt zu haben, die nicht Bundesrepublik hieß?

Zumindest in diesem Punkt müssen wir auch von der Verantwortungslosigkeit des Westens reden, der diese Situation ausgenutzt hat. Wir dürfen daraus aber nicht die Selbstentschuldigung ableiten, uns in eine ewige Opferecke zu stellen. Wir sind weder schlechter noch dümmer noch fauler, wir sind einfach nur weniger.

Sie bekunden einerseits Verständnis für Straßendemons­trantInnen, werfen ihnen aber zugleich vor, aus ihrer politischen Unmündigkeit nicht herauszukommen.

Es darf nicht beim Protest bleiben. Zum Wunsch nach Veränderung gehört auch, dass ich selbst die Korrektur versuche. Wir haben mehr Möglichkeiten, als wir glauben. Ein Drittel Nichtwähler beispielsweise verhält sich einfach nicht.

Ich kann auch dieses Beauftragtenwesen für den Osten nicht ausstehen, denn es verstärkt die Haltung „Man muss sich um uns kümmern!“ Und die SPD, der ich angehöre, kommt dem gern entgegen. Ich hingegen warne, dass dieses Überkümmern einen Krebsschaden an der Demokratie pflegt. So entstehen Erwartungshaltungen, die wir nie erfüllen können. Ganz abgesehen davon, dass wir so politischen Rattenfängern die Türen öffnen.

Sind BürgerInnen auf dem flachen Land demokratiemüde oder werden sie behindert?

Wir fahren nicht nur im Osten eine Förderpolitik, die die Demokratie zerstört. Es ist kontraproduktiv, wenn die Kommunen als die kleinsten politischen Zellen so an die Leine gelegt werden, dass sie kaum selbstwirksam werden können. Förderanträge, Zuweisungen suggerieren: Das ist Geld aus der Landeshauptstadt, das man freundlicherweise bekommt. Ein System des Misstrauens.

Was wäre die Alternative?

Im Interview: Dirk Neubauer

geboren 1971 in Halle, ist Bürgermeister der 4.500-EinwohnerInnen-Gemeinde Augustusburg und Autor des Buchs „Das Problem sind wir“.

Die Verfassung sichert eigentlich die kommunale Selbstverwaltung zu. In der Folge gehen immer mehr Leute, beispielsweise im Stadtrat, von der Fahne, weil sie merken, dass sie faktisch nichts mehr beschließen und bewirken. Wir geben nur Absichtserklärungen ab. Wir müssen das umdrehen, einfach mehr Vertrauen wagen.

Das versuchen Sie seit sieben Jahren im Amt.

Weil ich die Gefahr sehe, mit dieser Verweigerung das Land ins Unglück zu stürzen. Wir überspringen die schwierige Mitgestaltungsphase und setzen uns lieber mit verschränkten Armen hin und machen einfach nicht mehr mit. Immerhin haben wir im Osten den Erfahrungsvorsprung, dass man ein System durch Boykott verändern oder gar stürzen kann.

Glauben Sie, dass man den ehemaligen „Zonis“ demokratische Mitwirkungspflichten jetzt noch beibringen kann?

Ich glaube tatsächlich, dass das geht. Das setzt aber in den Köpfen eine politische Kehrtwende voraus. Wir sind immer noch eine Gesellschaft in Ausbildung, auf dem Weg.

In weniger prosperierenden und von Abwanderung betroffenen Regionen wie Mittelsachsen gibt es vermutlich größere mentale Hürden?

Wir sind nicht „abgehängt“! Ich habe mich vor 20 Jahren bewusst für eine Kleinstadt wie Augustusburg entschieden. Da kennt man die Bedingungen, da steht die Oper nicht gleich um die Ecke, und die Infrastruktur entspricht nicht der meiner Heimatstadt Halle. Wir haben aber auch höhere Erwartungen, als wir eigentlich zum Leben brauchen. Wir reden viel über die Entwicklung ländlicher Räume, aber die Politik meint es so nicht. Was wir hier machen, ist betreutes Sterben, eine Kapitulation vor der demografischen Entwicklung. Langfristig räumen wir die Räume. Ich aber sehe tatsächlich Potenzial.

… wenn der Wille zur Gestaltung ländlicher Räume nicht ausgebremst wird?

Sogar ein Wolfgang Schäuble redet von Bürgerräten. Wir brauchen Veränderung vor allem in Denkstrukturen, Entwicklungen stehen auf der Kippe. Kinder spüren schon unsere Einstellung: Du hast hier leider keine Chancen und musst weggehen. Sie versuchen gar nicht mehr, hier etwas zu machen. Dafür brauchen wir natürlich einen Politikwechsel, der einer Stadtgemeinschaft und ihren Räten ermöglicht, selber über ihre Entwicklungsprioritäten zu bestimmen.

Haben Urbanisierung und Landflucht nicht letztlich mit dem Grundgesetz des Kapitalismus zu tun, wonach der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt?

Das ist ein Ungeist, keine Gesetzmäßigkeit. Es wird in den nächsten Jahren auch nicht darum gehen, wo man das größte Geld verdient. Wir stehen vor ganz anderen Herausforderungen der Nachhaltigkeit, der Energieautarkie oder dem Auffangen derer, die durch Digitalrationalisierung ihre Arbeit verlieren. In unserem Diskussionsformat Augustusburg 2050 kommen solche Themen von den Leuten. Wir sollten ihnen vertrauen, und wir sind nicht nur Wolfserwartungsland!

Halten Sie sich damit nicht nur an die wenigen Weiterdenkenden? Sie haben doch eingangs über Passivität und Abstinenz geklagt.

Viele haben sich tatsächlich zurückgezogen, weil sie verletzt sind.

Seelisch oder ökonomisch?

Beides. Wirtschaftlich zum Beispiel, wenn Kinder von ihren Eltern aufgebaute Betriebe nicht weiterführen. Man kann aber alle erreichen, wir können sie erreichen! Klagen sind eine Ausrede, denn andere erreichen sie ja auch. Nach dem Schock der Landtagswahl Sachsen 2019 mit dem AfD-Erfolg hat sich schon im Koalitionsvertrag wieder ein „Weiter so“ durchgesetzt. Wir wollen immer allen alles recht machen. Politik aber muss Prioritäten setzen.

Sind kleinere Kommunen in der Veränderungsbereitschaft schon weiter, weil sie nicht so vom Anspruchsdenken beherrscht werden?

Die Zukunft dieser Gesellschaft und der Demokratie wird immer mehr eine kommunale Sache sein, weil wir in einem begreifbaren Lebensumfeld operieren. Das wertet auch die Verantwortung von uns Bürgermeistern auf. Für viele Bürger hier ist Dresden der Mond, Berlin die Milchstraße und Europa außerhalb des Universums. Viele haben sich in 30 Jahren eingerichtet und sind stolz darauf, geraten aber jetzt in eine Sinnsuche.

WutbürgerInnen und AfD-WählerInnen sind häufig mit den großen Fragen überfordert.

Warum bauen wir dann die Politik nicht um? Wenn ich nur sehe, was in meinen sieben Bürgermeisterjahren an Entscheidungskompetenz Richtung zentrale Ebenen abgewandert ist! Das damit verbundene Berichtswesen an die immer weiter entfernten Entscheider ufert aus. Ich will nicht mehr Geld, sondern anders über es verfügen. Ich habe vorgeschlagen, zwei Drittel der kommunalen Förderprogramme zu streichen und dafür eine Pauschale pro Einwohner auszuzahlen. Dann merken die Bürger, dass sie demokratischen Einfluss auf die Verwendung haben.

In einem System des Misstrauens klappt das nicht.

Ich hatte mit Frank Richter gemeinsam ein Konzept „Macht teilen“ erarbeitet, das aber in den schwarz-rot-grünen Koalitionsverhandlungen völlig unterging.

1989 hofften viele, der Osten könne eine Modellregion für ganz Deutschland werden. Gilt das mit Blick auf schwache Kommunen immer noch?

Ich merke bei den zahlreicher werdenden Gesprächen, dass die Leute noch etwas wollen. Meine eindeutige Wiederwahl signalisiert, dass man tatsächlich eine Stimmung „Hier geht etwas“ erzeugen kann. Wir haben auch keine AfD im Stadtrat. Deshalb bin ich so überzeugt, dass die Keimzelle einer erneuerten Demokratie die Kommune sein wird. Und das ist, so paradox es klingen mag, im Osten eher möglich. Wir sind immer noch beweglicher, und wir haben vielleicht auch den größeren Leidensdruck.

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5 Kommentare

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  • Es ist eine weltweite Tendenz vom Föderalismus zum Zentralismus zu wechseln. In wirtschaftlichen, politischen und sozialen Dingen.



    Siehe die großen "player" wie Amazon, Apple, Ikea, Google und noch einige mehr. Ich möchte nicht wissen wie viele kleine und mittlere Betriebe und Existenzgründer täglich von den Großen mit deren Stiefelabsatz in den Modder getreten werden aus dem sie nie wieder hochkommen können.



    Auch politisch, Berlin wäre gerne Paris oder London. Der zentrale Bauchnabel des Landes von dem aus man alles so wunderbar regulieren und steuern könnte. Diese Deppen in der Provinz wissen eh nicht was gut für sie ist.



    Aber auch soziale und persönliche Individualität, wird misstrauisch beäugt. Gehen sie mal zu einem Vorstellungsgespräch da erleben sie es. Man erwartet von ihnen ein Teamplayer zu sein, also Herdenmentalität. Das ist, damit das Oberschaf und seine Hirtenhunde, keinen Stress haben und sie tun was man ihnen sagt. Querdenker und kreative Köpfe wollen die zwar alle haben, aber nur theoretisch weil im wirklichen Leben die anstrengend sein können.



    Natürlich kommt erschwerend hinzu, dass es eine weltweite Wanderung und Verschiebung von Produktionsstandorten und wirtschaftlichen Zentren gibt. Ähnlich den Völkerwanderungen in der Geschichte. Das stresst. Und wir Wessis haben damit momentan alle Hände voll zu tun, um den eigenen Wohlstand zu sichern. Da bleibt nicht viel an Ressourcen um unseren östlichen Schwestern und Brüder zu helfen. Man ist ja schließlich sich selber am nächsten. Deswegen kommt momentan auch nur die etwas gekürzte Version zur Anwendung und zwar "Liberte, Egalite, ...).



    Ich finde den Vorschlag gut, Fördermittel ohne ein "was zu tun ist Korsett" zu vergeben. Lasst die Leute Ideen haben und diese umsetzen. Es würden mit Sicherheit viele neue und konstruktive Dinge entstehen.

  • 9G
    97627 (Profil gelöscht)

    Jaja.. Das les ich nochmal, wenn die Rentenunterschiede abgeschafft wurden.

  • Verständlich, dass ein Mitglied einer Kleinpartei wie die SPD sich die Ostwelt schön redet. Die nackten Tatsachen zeigen eine andere Wirklichkeit. In der Ex-DDR bestehen auch heute noch keine Perspektiven um sich dort eine Existenz aufzubauen. Die mit dem SS-WVHA vergleichbare Treuhandgesellschaft hatte wirksame Arbeit zur stetigen Deindustrialisierung der ostdeutschen Bundesländer geleistet. Durch die schleichende sich über fünf Jahre hinziehende Wühlarbeit wurden außer bei Betrieben, die Kali & Salz konplett nach der Wende übernommen hatte und sofort beseitigte, die Arbeitslosigkeit auf offizielle 30,3 % im Altkreis Artern, jetzt Freistaat Thüringen, gesteigert. Von solchen Planerfüllungen träumten die Ökonomen der VEB zu DDR-Zeiten nur.

    Wer also noch bei klarem Verstand war und als ehemaliger SED-Kader nicht bei der CDU unterkriechen konnte, wie die sattsam bekannte Vera Lengsfeld, der sah zu, dass er Land gewinnt. Was gibt es denn noch an echten Arbeitsplätzen für qualifizierte Naturwissenschaftler und Diplom-Ingenieure? Selbst das zunächst lukrative Betreiben von Imbissbuden, vom MDR mit Pathos als die neue "Dienstleistungskultur" gefeiert, lohnt sich nicht mehr, weil die Leute kein Geld besitzen. Eine extreme Leichtgläubigkeit der ex-DDR-Bürger, die doch tatsächlich nicht glauben wollten, dass die Bundespolitiker sie schamlos belügen und die Mietmäuler jener Politiker, die sich gern zur "vierten Gewalt" stilisieren, hatte nur zur Folge, dass die älltägliche Kampfparole " Es kann ja nicht immer so bleiben, das muss ja einfach besser werden" bis heute lebt. Wie zu DDR-Zeiten verzog man sich an den heimischen Kaffeetisch. Doch was ist mit den Neurentnern, wenn nach 30 Jahren immer alles beim Alten geblieben ist und die Mickerbeiträge aus dem zweiten Arbeitsmarkt gerade eine Altersrente von 500 Euro ergeben? Da lässt es sich trefflich faseln von "Geld allein macht nicht glücklich". Besonders, wenn man einen sicheren Posten als



    Politiker bekleidet.

  • Guter Beitrag.

    .... Vielerorts ist die DDR noch immer Sieger der Herzen. Und im Dunst der Stammtische so untot, wie verbrämte Erinnerungen es nur sein können. Die neue Freiheit an eben gleicher Stelle eher Last als Gewinn. Die heimliche Sehnsucht nach dem Diktat, nach klarer Kante und – da ist es wieder – dem einen, der es für uns macht. Der alles regelt, dass es gut wird.

    .. Wir sollten ihnen vertrauen, und wir sind nicht nur Wolfserwartungsland!

    Wir, die wir noch immer unter der Obhut der „Ostbeauftragten“ wie Indianer im Reservat still jammernd auf irgendeinen hoffen, der es für uns richtet. Dabei übersehen wir, was wir alles geleistet haben. Was wir geschafft haben. Zusammen und auch jeder für sich. Doch im dunklen Tal gebrochener Biografien. Unter der bitteren Last verwehrter Anerkennung für geleistete, aber verlorene Lebenswege, ist es eben leichter, rückwärts zu klagen, als vorwärts zu streiten.

    Klar, das ist Autorensprache aber war.

    • @Ringelnatz1:

      Wieso berührt mich das so, dass mir die Tränen kommen?!



      Weil es genau den Schmerz beschreibt, der meine Eltern, Tanten, Onkel und Bekannten zerrissen hat. So ein bisschen ist es, als hätte man zwar Freiheit gewonnen, aber sein ganzes Hab und Gut durch Taschenspielertricks verloren.

      Der SPD-Mann vergisst noch etwas: In Deckung leben hat DDR-Bürger beschützt. Das das nun heute eher behindert, mag ja sein - dennoch ist der Ossi eben Ossi und das bescheidenere und verhaltenere (politische) Wesen hat die letzten Jahrzehnte überdauert.

      Ohne die AFD-Großmäuler aus dem Westen, wäre hier gar nicht so ein Hype entstanden. Ungünstig, dass die so unverschämt führen können und die Ossis so dusselig folgen.....