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Bürgerkrieg in SyrienRebellen erobern weitere Stadt

Syriens HTS-Kämpfer vertreiben Assads Soldaten aus Hama und nähern sich Damaskus. Aus Angst vor Islamisten flohen derweil viele Kur­d*in­nen aus Aleppo.

Ein Kollege betet am Grab des syrischen Fotografen Anas Alkharboutli, der bei einen Luftschlag nahe Hama getötet wurde Foto: Ghaith Alsayed

Berlin taz | In Syrien haben die Rebellen, die am vergangenen Wochenende die Millionenstadt Aleppo erobert hatten, am Donnerstag auch die Stadt Hama eingenommen. Die Regierungsarmee von Machthaber Baschar al-Assad bestätigte die Übernahme. Die Soldaten seien aus der Stadt abgezogen. Auf Videos in sozialen Netzwerken waren jubelnde Rebellenkämpfer beim Einzug in die Stadt zu sehen.

Sie hätten Hunderte Insassen aus dem Zentralgefängnis in Osthama befreit, sagte Rebellenkommandeur Hassan Abdul Ghani. Es handle sich dabei um vom Regime zu Unrecht inhaftierte Gefangene. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagte, in dem Gefängnis hätten 3000 Häftlinge eingesessen, manche seit 2011.

Die Oppositionskämpfer hatten schon seit Dienstag versucht, Hama einzunehmen. In der Nacht unterstützten heftige russische Luftangriffe die syrische Armee, die sich aber letztendlich an den Rand der Stadt zurückziehen musste. Hama ist die viertgrößte Stadt Syriens und strategisch für die Rebellen. Die Kämpfer planen nun, weiter südlich nach Homs vorzurücken. Homs ist die drittgrößte Stadt in Syrien. Damit verliert Assad wichtige Gebiete, die vormals unter seiner Kontrolle waren.

Die Kämpfer aus verschiedenen bewaffneten Gruppen hatten am Mittwoch vergangener Woche mit ihrer gemeinsamen Offensive begonnen. Angeführt werden sie von der Hayat Tahrir al-Sham (HTS). HTS verfolgt einen politisch-sunnitischen Islam. Die Gruppe beherrscht seit 2017 das Gebiet Idlib im Nordwesten Syriens. Dorthin mussten viele oppositionelle Milizen und Zi­vi­lis­t*in­nen im Syrienkrieg flüchten. Idlib war die letzte Gegend, die Assad nicht einnehmen konnte, nachdem er mit Giftgas, Fassbomben und Folter, unterstützt von Russland und Iran, die Aufständischen in Ostaleppo und anderen Gebieten besiegt hatte.

Vergangene Woche konnten die bewaffneten Aufständischen nach nur drei Tagen Offensive Aleppo befreien. Viele Vertriebene kamen unter Freudentränen zurück in die Stadt, trafen nach Jahren der Flucht Familienmitglieder wieder.

Kurden auf der Flucht

Für manche Kur­d*in­nen in Syrien bedeutet die Machtübernahme demgegenüber eine massive Bedrohung. Aus Angst vor Islamisten flohen inzwischen mindestens 20.000 Kur­d*in­nen aus Aleppo und umliegenden Gebieten in die Gebiete der kurdischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (Rojava). Nördlich von Aleppo, in der Sheba-Region, greift die Syrische Nationalarmee (SNA), eine von der Türkei finanzierte Miliz, die kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) an. Die SNA-Offensive gegen die Kurden läuft unabhängig von der HTS-Offensive gegen das Assad-Regime.

Ein SDF-Sprecher sagte, die protürkischen Kämpfer hätten Menschen auf der Flucht angegriffen und misshandelt. Über 120 Fahrzeuge mit Hunderten von Zivilist*innen, die versuchten, in kurdisch verwaltete Gebiete im Norden und Osten zu fliehen, seien entführt und an einen unbekannten Ort gebracht worden.

In der Sheba-Region verharrt die kurdische Bevölkerung in Geflüchtetenlagern, seit die Menschen 2018 durch Angriffe der Türkei aus ihrer Heimat Afrin an der Grenze zur Türkei vertrieben wurden. Die Türkei besetzt das Gebiet seitdem und bombardiert die kurdischen Kantone. 57 Menschen wurden dieses Jahr in Rojava nach Angaben des Rojava Information Center durch türkische Drohnenangriffe umgebracht. Aus Angst vor Massenmorden durch die SNA mussten die Menschen nun aus dem Geflüchtetenlager in Sheba fliehen, berichtet Kongra Star, der Dachverband kurdischer Frauenbewegungen in Syrien.

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4 Kommentare

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  • Selbst die eigenen Regierungstruppen haben wohl keine Motivation Assad beizustehen und zu Kämpfen. Russland kann auch nicht helfen, da gebunden in der Ukraine, also ist Assad wohl allein zu Haus.

    Das ganze Dilemma hat aber Russland zu verantworten, welches sehr brutal in der Vergangenheit gegen die Syrische Bevölkerung vorgegangen ist, man sieht, alles rächt sich irgendwann im leben!

  • „Die SNA-Offensive gegen die Kurden läuft unabhängig von der HTS-Offensive gegen des Assad-Regime.“



    Wer das glaubt, glaubt auch an den Klapperstorch. Viel wichtiger wäre es doch, mal die Frage zu klären, wer denn wohl die Financiers dieser angeblich so überraschenden neuen militärischen Potenz der Anti-Assad-Kräfte in Syrien sind. Ich habe da so meine Vermutungen.



    Sicherlich profitieren die pro-türkischen sunnitischen Jihadisten von der momentanen Schwäche der iranischen „Widerstandsachse“, aber ohne die USA und die Türkei könnte nicht viel laufen, um Assad zu Fall zu bringen.



    Ich sehe Syriens Zukunft leider düsterer als die Gegenwart schon ist - es drohen Talibanisierung oder gar ein failed state. Aber der Westen hat wieder mal nichts gelernt, denn es gilt die kurzsichtige außenpolitische Prämisse: der Feind meines Feindes ist mein Freund.



    Vertreten selbst hier in der taz mit durchsichtigen Reinwasch-Kampagnen sunnitisch-islamistischer Gotteskrieger:



    taz.de/Die-HTS-in-Syrien/!6049870/



    Etwas gnädiger würde ich es ja beurteilen, wenn man wenigstens die gebotene Äquidistanz zwischen den Mullahs in Teheran und den fanatischen Glaubenskriegern aus Idlib wahren würde.

  • Die Lage ist extrem im Fluss aber bisher ist die syrische Armee überall auf dem Rückzug und lässt massiv Material zurück und hat mit hohen Desertationsraten zu kämpfen, In einer Woche Aleppo und Hama verloren im schlimmsten Fall fällt auch Homs und Assads Syrien verliert den Meer Zugang, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit vermutlich Wochen bis ganz West-Syrien unter Kontrolle der Rebellen ist. Die Frage ist dann halt ob HTS die eigene Rhetorik der letzten Tage und Monate ernst nimmt und einen friedlichen Übergang zur Demokratie unterstützt. Im Tausch gegen Autonomierechte würden das auch die SDF mitgehen. Dann wäre Hezbollah vom Nachschub via Land abgeschnitten, was den Druck auf die Gruppe erhöhen und den weg freimachen würde für einen dauerhaften Frieden im Libanon. Gleichzeitig würde Russland seine Basis verlieren. Das würde für mehr Sicherheit im Mittelmeerraum führen. Hauptproblem ist jetzt ein potentieller Giftgaseinsatz durch Assad um das Blatt nochmal zu wenden und ein wiedererstarken des IS in der südlichen Wüste.

    • @Machiavelli:

      „Hauptproblem ist jetzt ein potentieller Giftgaseinsatz durch Asssad um das Blatt noch mal zu wenden und ein wiedererstarken des IS in der südlichen Wüste.“



      Das alles kann in der Tat drohen - ausgelöst jedoch durch den Bruch des bisherigen (ohne Frage schlechten!) innenpolitischen Status Quo durch diese HTS-Offensive.



      Wer profitiert davon? Fragen Sie sich das selbst. Russland und der Iran tun es mit Sicherheit nicht. Darüber kann man sich natürlich freuen, wenn man der leidenden Bevölkerung in Syrien nur die Wahl zwischen Pest und Cholera lassen will: Talibanisierung oder failed state.



      Was HTS/SNA wollen, kann man übrigens an den Angriffen gegen die kurdische Bevölkerung in der Region Aleppo erkennen - ein „demokratisches Experiment“ Rojava in Nordsyrien ist sowohl für die syrischen Kettenhunde Erdogans als auch für die Assads gefährlich, es muss eliminiert werden. Deren jeweiligen Allierten USA und Russland/Iran ist das Schicksal der Kurden wie der übrigen syrischen Bevölkerung letztlich gleichgültig. Wichtig ist lediglich das Ausdehnen der eigenen Machtsphären.