piwik no script img

Buenos AiresObdachlose verlieren Stopover

In Argentinien haben Behörden und Betreiber des städtischen Flughafens von Buenos Aires das dortige Nachtlager überraschend aufgelöst.

Obdachlose nächtigen im April im Flughafenterminal von Buenos Aires auf dem Boden Foto: Natacha Pisarenko/ap

Buenos Aires taz | Rund 160 Obdachlose sind aus dem Gebäude des Stadtflughafens von Buenos Aires vertrieben worden. Völlig unerwartet waren sie am späten Donnerstagabend mit all ihren Habseligkeiten vor die Türen des Terminals gesetzt worden, die seither von Sicherheitskräften kontrolliert werden.

Die „Sin Techos“ (ohne Dach), die zum Teil seit Monaten in dem Gebäude schliefen, waren bisher geduldet worden. Das Flughafenterminal sei ein öffentlicher Raum, auch für Obdachlose, hatten die Betreibergesellschaft Aeropuertos Argentina 2000 (AA2000) sowie das Wohnungsbauministerium der Stadt Buenos Aires bisher versichert.

Das Gebäude ist rund um die Uhr geöffnet, auch wenn nachts kein Flugverkehr stattfindet. Die Obdachlosen hatten es stets am Morgen verlassen und kehrten gegen Abend zurück. Seit dem Beginn der kalten Wintersaison hatte ihre Zahl zugenommen.

„Es war eine gemeinsame Entscheidung der staatlichen Behörden und des Wohnungsministeriums der Stadt Buenos Aires“, erklärte die Betreibergesellschaft AA2000 die Räumung. Das gemeinsame Vorgehen ist auch ein Grund, warum die Aktion relativ geräuschlos durchgeführt werden konnte.

Kein Aufreger im Wahlkampf

Dabei ist in Argentinien Wahlkampf. In der Stadt regiert das konservativ-liberale Lager, im Staat das progressive. Ohne die Vereinbarung hätte die eine Seite die andere vehement angeprangert.

Nur soziale Organisationen wie die Menschenrechtsorganisation Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) schlugen Alarm: „Sie vertreiben die Menschen, die seit Monaten im Aeroparque schlafen. In all dieser Zeit hat das städtische Wohnungsamt keine Alternative als eine Obdachloseneinrichtung zum Schlafen vorgeschlagen“.

Unter den Obdachlosen gelten die städtischen Centros de Inclusión Social als Gefängnisse mit Freigang. Nur 30 der Personen, die jetzt aus dem Terminal vertrieben wurden, akzeptierten die Verlegung in eines der 44 städtischen Zentren.

Bei der letzten offiziellen Erhebung im April wurden in der Hauptstadt 3511 Obdachlose gezählt. Für eine Drei-Millionen-Metropole mit derart enormen sozialen Problemen eigentlich eine moderate Zahl.

Starke Mietsteigerungen

Alarmierend ist jedoch der Trend: 34 Prozent mehr als vor einem Jahr, als 2611 obdachlose Personen gezählt wurden. Für die sozialen Organisationen sind die Angaben denn auch viel zu niedrig. Sie gehen von einer Dunkelziffer von 9000 Obdachlosen aus und warnen, dass es „immer mehr Menschen gibt, die nirgendwo leben können und die Zuflucht suchen, wo immer sie können“.

Ein Grund: Die Durchschnittsmiete war im Juni 2023 im Vergleich zum Juni 2022 um satte 124 Prozent gestiegen. Das Vorgehen der Behörden ist auch deshalb pikant, weil die Räumungsaktion unmittelbar nach dem „3. lateinamerikanischen und karibischen Treffen von Menschen in Straßensituationen“ in Buenos Aires stattfand. Dabei wurde über Integrationszentren, Zwangsräumungen, Gesundheitsversorgung und institutionelle Gewalt diskutiert.

Auch die Menschenrechtsorganisation CELS hatte an dem Treffen teilgenommen. „Es sind Hunderte von Menschen versammelt, um über grundlegende Lösungen des Problems zu diskutieren, und unmittelbar danach geschieht das genaue Gegenteil“, erklärte die Menschenrechtsorganisation.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Vor vier Jahren war ich mit einer Gruppe unterwegs, mit der wir in San Telmo zweimal die Woche 80 Mahlzeiten und Kleiderspenden verteilt haben. Damit sind wir meist nicht weiter als 5 oder 6 cuadras gekommen. 3500 Obdachlose klingt in der Tat kaum realistisch. Die leben dort wegen der ständigen, ökonomischen Krisen, aber auch, weil die argentinische Gesellschaft den Obdachlosen gegenüber insgesamt recht fürsorglich und verständnisvoll eingestellt ist. Einige hatten sich auf der Staße veritable Wohnverschläge eingerichtet. Manche Bäckereien haben am Abend ihre Reste verschenkt, da gab es lange Schlangen. Mit den Obdachlosen in unserer Straße haben wir uns zwar immer freundlich gegrüßt, aber die Zierpflanzen, die wir ein paar Mal im Fenster zu ziehen versucht haben, waren jeweils nach wenigen Stunden entwendet. Offenbar konnte man sie noch zu Geld machen...

    In anderen lateinamerikanischen Großstädten ist dieses Leben kaum zu überleben. Da schlagen sich die Leute dann in den Armutsvierteln und Müllhalden durch, oder sie werden in dubiose Entziehungseinrichtungen verschafft.

  • "Progressiv, konservativ, liberal" sch... egal.

    Alles nur Grautöne