Bücherstapel und Buchmesse: In der größten Selbsthilfegruppe der Welt
Bücher ungelesen zu horten, ist ziemlich irrational. Aber gleichzeitig liegt darin etwas zutiefst Menschliches.
D ie japanische Sprache ist gut darin, Probleme auf den Punkt zu bringen. So kennt sie das Wort „Tsundoku“. Tsundoku hat nichts mit Zahlenrätseln zu tun (das sind Sudokus), vielmehr bezeichnet der Begriff das Anhäufen von Büchern. Er setzt sich zusammen aus den japanischen Zeichen für „etwas vorrätig haben“/„stapeln“ und „lesen“.
Das Phänomen Tsundoku kenne ich sehr gut, denn ich gehöre zu den Buch-Hochstaplern. Jede Menge Druckwerke liegen knie- bis oberschenkelhoch in meinem Wohnzimmer und neben dem Bett. In den Großteil der Bücher lese ich nur kurz rein, einige landen irgendwann noch eingeschweißt im Regal (was zu verwunderten Nachfragen von Besuchern führt), geschätzte zehn Prozent davon lese ich wirklich von vorne bis hinten durch. Für Tsundokuisten ist gerade Hochsaison: Es ist Bücherherbst, Buchmessenzeit. Oder auch: erhöhte Stapelgefahr.
Die Schriftstellerin und Journalistin Marlen Hobrack hat gerade ein Buch darüber geschrieben, wie ihre kürzlich verstorbene Mutter Dinge in der Wohnung gehortet hat („Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt“), zum Beispiel Putzmittel, Steppdecken, Vitaminpillen. Wir Bücherstapler würden es wahrscheinlich weit von uns weisen, mit dieser Art des Hortens in Verbindung gebracht zu werden. Dabei tun wir mit der geistigen Nahrung zwischen den Buchdeckeln nichts anderes: Wir heben sie auf für eine Zeit, die vielleicht nie kommt.
Wahrscheinlich wird Tsundoku auch deshalb zum Teil pathologisiert. Einerseits verständlich, denn es scheint sogar rationaler, Putzmittel anzuhäufen – Haushalt ist immer –, als Gedrucktes hochzustapeln, das man allein aus zeitlichen Gründen wohl nie wird lesen können. Andererseits liegt im Buchanhäufertum etwas zutiefst Menschliches.
Man bescheißt sich selbst („irgendwann werde ich Zeit und Muße haben“) und will jederzeit Zugriff haben auf etwas, das den Horizont jenseits des eigenen kleinen Raumes erweitert. Und es passiert ja auch tatsächlich, dass man Bücher nach vielen Jahren des Patinaansetzens vom Herumstehen erlöst und noch einmal zur Hand nimmt. Nur ist das eben der Ausnahmefall.
Zum Glück bin ich dieser Tage, während der Buchmesse, direkt umgeben von der wohl größten Tsundoku-Selbsthilfegruppe der Welt. Mögen wir zusammen lernen, etwas tieferzustapeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken