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Buchautor über sexuelle Gebärden„Mein Vorbild ist Beate Uhse“

Wolfgang Schinmeyer hat ein Gebärden-Wörterbuch über die Reeperbahn herausgegeben. Mit Zeichen für „Kondom“ oder „Prostituierte“ will er Sexualität normalisieren.

Wolfgang Schinmeyer zeigt die Gebärde für „Herbertstraße“. Foto: Hannes von der Fecht
Andrea Maestro
Interview von Andrea Maestro

taz: Herr Schinmeyer, ist es für Gehörlose schwierig, Sex zu kaufen?

Wolfgang Schinmeyer: Damit habe ich selbst keine Erfahrung, aber ich glaube nicht. Es ist ja möglich, Augenkontakt herzustellen und die Gebärde für „was kostet es?“ verstehen auch Hörende. (Er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander.) Schwieriger wird es bei den Preisverhandlungen.

Gibt es auf der Reeperbahn Prostituierte, die Gebärden beherrschen?

Der Mythos, dass es vor 20 oder 30 Jahren mal eine Prostituierte gab, die das konnte, hält sich hartnäckig. Ich habe sie aber nie kennengelernt. Abgesehen von der reinen deutschen Gebärdensprache können aber sicherlich die meisten Prostituierten ihre Hände und Mimik benutzen, um sich verständlich zu machen.

Unterscheiden sich Gebärden für Worte wie Ficken, Wichsen oder Blasen von obszönen Gesten, die Hörende benutzen?

Nein, nicht wesentlich. Bei der Gebärde für Porno und einen Blasen bildet man mit den Fingern und dem Daumen einen Kreis und führt den zum Mund. Bei der Gebärde für Ficken kann man einen Finger in einen Kreis aus Fingern der anderen Hand einführen. Ich denke, das versteht jeder.

Warum haben Sie dann ein spezielles Gebärdenbuch über St. Pauli gemacht?

Es ging mir darum, sexuelle Gebärden und das gesellschaftliche Tabu, das damit einhergeht, öffentlich zu machen. In Hamburg bietet es sich an, dieses Thema mit dem „sündigen“ Stadtteil St. Pauli zu verbinden.

Im Interview: Wolfgang Schinmeyer

61, ist technischer Zeichner und Grafiker. Seit 2010 veröffentlicht er Broschüren unter dem Titel "Faszination Gebärden", unter anderem über Schimpfworte. Schinmeyer ist seit seinem zweiten Lebensjahr gehörlos.

Ist die Gebärdensprache denn so verklemmt?

Nein, verklemmt trifft es nicht. Aber genau wie bei Hörenden sprechen manche Menschen über Sexualität und andere nicht. Bisher wurden diese sexuellen Vokabeln aber nie in einem Buch gebündelt. Mein Vorbild dabei ist Beate Uhse. Sie hat Sexualität und Erotik in unserer Gesellschaft öffentlich gemacht.

Gab es Kritik von Gehörlosen an Ihrer Arbeit?

Nein, keine Kritik, aber Diskussionen. In Deutschland wird keine einheitliche Gebärdensprache gesprochen, sondern viele Dialekte. Da kann man gut darüber streiten, ob eine Gebärde die richtige ist oder eine andere noch richtiger. Aber auch wenn sich die Dialekte in Berlin oder dem Ruhrpott unterscheiden, verstehen wir uns.

Veröffentlichen Sie Ihre Broschüren für Hörende oder Gehörlose?

Eher für Hörende. Gehörlose kennen diese Gebärden ja. Meine Zielgruppe sind Studierende, die lernen, Gebärden zu dolmetschen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder Polizisten.

Trotzdem sind Ihre “Gebärden auf St. Pauli“ ein Abbild der netten Seiten der Reeperbahn. Sie zeigen Worte wie Kneipentour, Riesentitten oder Herbertstraße. Warum kommen Zwangsprostitution oder Menschenhandel nicht vor?

Das ist eine gute Frage. Man hätte die Gebärden sicherlich erweitern können, aber ich musste eine Auswahl treffen.

Wo haben Sie die vielen schlüpfrigen Gebärden gelernt?

Ich bin gehörlos aufgewachsen, bin auf eine Gehörlosenschule gegangen. Da spricht man mit Leuten und kriegt das mit.

Warum sind Sie gehörlos?

Als ich zwei Jahre alt war, bekam ich eine Hirnhautentzündung.

Hadern Sie manchmal damit?

Nein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es war, als ich noch hören konnte. Deshalb fehlt mir der Vergleich. Schlimmer ist es für Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt ihr Gehör verlieren. Das trifft besonders auf Berufsmusiker zu – Beethoven war so ein tragischer Fall.

Was verbindet Sie mit St. Pauli?

Als ich zehn Jahre alt war, bin ich mit meiner Tante im Auto an der Reeperbahn vorbeigefahren. Ich saß am Fenster und habe diese Wahnsinnsbilder von Frauen an den Wänden gesehen. Die waren vom Künstler Erwin Ross. Heute sind die Pin-up-Malereien fast alle verschwunden. Mich hat die Offenheit fasziniert, mit der diese Bilder auf dem Kiez gezeigt wurden. Mit 16 Jahren bin ich selbst zum ersten Mal über die Reeperbahn gegangen. Ich war baff und neugierig, hatte aber kein Geld. Den Kiez habe ich trotzdem als großen Männertraum wahrgenommen. Später habe ich dort viel fotografiert und auch Führungen für gehörlose Touristen aus Japan, Israel oder Schweden angeboten.

Wo treffen sich Gehörlose auf St. Pauli?

Früher im Mary-Lou’s – einer Kneipe am Hans-Albers-Platz. Das war ein Geheimtipp. Sehen und gesehen werden. Heute trifft man sich mal hier und mal dort.

Gibt es viele Gehörlose in Hamburg?

Ja. Hier und im Umland leben rund 2.000 Gehörlose. In ganz Deutschland sind es rund 80.000 Menschen.

Wie kommunizieren Sie mit Hörenden?

Ich habe immer Stift und Zettel dabei, weil es selten ist, dass jemand Gebärdensprache kann. Meistens muss man sich einen abkaspern: ganz starke Mimik, viel zeigen, denn das Lippenlesen allein bringt einem in Alltagssituationen mit Gesprächspartnern, die man nicht kennt, wenig. Meine nächste Broschüre möchte ich zum Thema Alltag herausbringen – mit einfachen Begriffen, wie Schlafen, Essen oder Trinken. Damit die Verständigung besser klappt.

Wem ist die Figur in Ihrem Buch nachempfunden, die die Gebärden macht? Sie sieht aus wie ein Klischee-Lude.

Mir. Ein Freund hat mich fotografiert und ich habe die Grafiken dann mit Photoshop verändert. Aber es ist gewollt, dass er ein bisschen wie ein Rocker oder Zuhälter aussieht.

Aus reiner Neugier: Stimmt es, dass die Gebärde für Guido Westerwelle die gleiche ist wie die für Akne?

Nein, sie bedeutet Pockennarbe. Interessant ist auch Angela Merkel. Klar, kann man die Hände zur Raute formen, aber die Gebärde für hängende Mundwinkel versteht gleich jeder.

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4 Kommentare

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  • Wie viel sexuelle Armut Freier kennzeichnet, beschreiben Expertinnen für Prostitution in diesen Artikeln:

     

    //http://www.taz.de/!5191687/

     

    //http://www.taz.de/!5452370/

    https://www.emma.de/artikel/ein-besuch-im-domina-studio-263725

     

    Die Rate an Menschen, die schon als Kinder sexuellen Missbrauch erlebten, ist unter männlichen und weiblichen Prostituierten hoch. Wer in einer Missbraucherfamilie aufwächst und dort zum Opfer für sexuelle Ausbeutung auserkoren wird, lernt oft buchstäblich von der Wiege an, die sexualisierten Bedürfnisse der MissbraucherInnen zu identifizieren und zu befriedigen. Gleichzeitig müssen die Opfer lernen, während der sexuellen Attacken zu dissoziieren, denn der Wucht der sexuellen Energie Erwachsener haben Kinder weder physisch noch emotional etwas entgegen zu setzen. Sexualität transportiert Lebenskraft und Todestrieb zugleich. Dissoziieren, also innerlich wegtreten, das Bewusstsein abspalten ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung, um später in der Prostitution arbeiten zu können, ohne an Körper und Seele schwer krank zu werden.

     

    Es gibt leider wenig Forschung zu dem Thema. Aber ich mutmaße, dass viele Prostituierte und ihre Freier die Missbrauchsbiografie teilen. Denn die Rate an männlichen Opfern von Kindesmissbrauch ist hoch. Das gesellschaftliche Tabu viel größer als bei ihren weiblichen Pendants. Hilfe sehr rar. Einem Mann, der in Folge sexueller Traumatisierungen ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität hat, dem bleibt immerhin noch der Gang zu Prostituierten, um trotzdem Sex machen zu können.

     

    Angelika Oetken, eine von 9 Millionen erwachsenen Menschen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs geworden sind

  • Wie geht "sexueller Missbrauch gegen Schmerzensgeld" in Gebärdensprache ? Und wird die Führung/ Schulung auch für gehörlose Frauen angeboten ? Meint dieser Herr Schinmeyer tatsächlich, das es von Nöten ist Gehörlose in die Welt der Frauenvergewaltigung gegen Schweigegeld einzuführen ? Als wie "normal" soll Prostitution in unserer Gesellschaft eigentlich noch dargestellt werden ? Ich dachte, unsere Gesellschaft hat sich seit dem Dritten Reich aufgeschwungen eine Bessere zu werden, aber leider muß ich sehen, wir haben mehr Zwangsarbeitlager denn je... Frauen begeben sich nicht "freiwillig" in die Prostitution. Es gibt immer Umstände, die Sie dazu nötigen, sodass diese Einwilligung zum Missbrauchtwerden nicht freiwillig sein kann. Es mag vereinzelnd welche geben, die wirklich ohne Zwang und Abhängigkeiten in der Prostitution arbeiten. Aber dann sicher nicht in den üblichen Bereichen, sondern eher als Domina. Wann begreift unsere Gesellschaft, das es real keine Gleichwertigkeit/ Gleichstellung zwischen Männern und Frauen gibt, solange Frauen für diese Frondienste abgestellt werden. Männer (Frauen als Nachfrager sind meines Erachtens nicht existent) haben kein Recht auf Menschenkauf für Sex - auch Gehörlose oder sonst wie Behinderte nicht ! Bürger in Deutschland dürfen ihre Organe nicht verkaufen und auch Leihmutterschaft ist verboten. Mit welcher Logik soll dann Prostitution rechtens sein, produziert sie doch nur an Leib und Seele erkrankte Menschen - lebenslang. Alle die Prostitution nachfragen machen sich an den Frauen, die sie prostituieren schuldig. Ja, auch an der Gesellschaft selbst, da sie ihr Menschenbild nicht am Bordellausgang ablegen.

  • Bei allem Respekt für Gehörlose und den in der Tat mangelhaften Bekanntheitsgrad der Gebärdensprache in der hörenden Bevölkerung: Was Herr Schinmeyer hier tut, dient nicht etwa dazu, "Sexualität zu normalisieren", sondern aktiv Prostitution zu fördern und zu verharmlosen (vgl. fehlende Begriffe wie "Menschenhandel" und "Zwangsprostitution"). Dies mit der fadenscheinigen Ausrede "man musste eine Auswahl treffen" abzutun, ist einfach nur scheinheilig!

     

    Anmerkung an die Redaktion: Ich bitte um Entfernen des Wortes "Taubstumme" im ersten Teil des Titels! Der korrekte Begriff lautet "Gehörlose", da diese Menschen zwar nicht hören können, aber sehr wohl sprechen (sei es in Gebärdensprache oder in Lautsprache), also nicht "stumm" sind. Außerdem wendet sich das Werk ja gerade nicht an Gehörlose, sondern an Hörende, also liegt man mit dem Titel " 'Ficken' für Taubstumme" doppelt daneben.

  • Liebe Taz, mach doch bitte ganz oben noch das Wort "Taubstumme" weg. Es diskriminiert.

     

    Daneben könnte man den Artikel missvertehen: gehörlose Menschen reden genauso viel oder wenig über Sex wie hörende. Das Novum ist doch nicht, dass gehörlose Menschen Sex haben, sondern dieses Lexikon.

     

    Die Vermutung, dass es da ein Defizit gäbe, wage ich allerdings doch zu bezweifeln. Die Gebärden kennen wohl alle, die (die deutsche) Gebärdensprache gelernt haben. Gebärden lernt man eh am leichtesten durch direkte Kontakte - und da wird es oft direkt.