Buch über sexuellen Missbrauch: Gegen den Pranger
Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger erlebte als Junge im Kloster Zwettl sexuelle Gewalt. In seinem Buch „Mein Fall“ erzählt er davon.
Wenn Pater Gottfried Eder den damals zehnjährigen Josef Haslinger im Zisterzienserkloster Zwettl zur Seite nahm und einen unbeobachteten Ort mit ihm aufsuchte, wusste der Junge schon, was folgen sollte: „Es lief immer auf das Gleiche hinaus. Er griff nach meinem Penis und wollte, dass ich auch seinen Penis anfasse.“
Josef Haslinger war Ende der sechziger Jahre für einige Jahre Sängerknabe in dem niederösterreichischen Kloster, und Pater Gottfried war nicht der einzige, der ihn damals sexuell missbrauchte. Auch Organist Adolf Viktor nötigte ihn dazu, ihn zu befriedigen. Physische Gewalt war ebenfalls an der Tagesordnung, Pater Bruno Schneider war sogar stolz auf seine harte Gangart. Wegsperren, Watschen, Stockhiebe, all das war Gang und Gäbe.
Josef Haslinger, heute anerkannter und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, hat nun sowohl ein Buch über seine Missbrauchsgeschichte als auch über sein Hilfeersuchen bei den Opferschutzinitiativen in Österreich geschrieben. „Mein Fall“ heißt es.
Es geht dem heute 64-Jährigen vor allem darum, die Namen „der Männer, die mich so verstört haben, dass sie mich ein Leben lang verfolgen, endlich [zu] benennen“. Er konnte dies, wie er mehrfach betont, erst tun, nachdem diese alle verstorben waren. Sie zu Lebzeiten mit ihrer Tat zu konfrontieren oder sie anzuzeigen, sei für ihn nicht infrage gekommen. Er hätte sich in dem Fall um ihren Ruf gesorgt, schreibt er. Und gesteht zu: „Normal mag das nicht sein.“
Josef Haslinger: „Mein Fall“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 144 S., 20 Euro. Erscheint am 29. Januar
Haslingers Buch hat eine Vorgeschichte. Denn es ist nicht das erste Mal, dass er über die Abgründe im Stift Zwettl schreibt. Die Gewalterfahrungen und pädosexuellen Übergriffe hat er in mehreren literarischen Kurzgeschichten (u. a. „Die plötzlichen Geschenke des Himmels“, 1983, „Im Spielsaal“, 2019) verarbeitet.
2004 schrieb er im Standard lakonisch davon, wie er zum „Fachmann für sexuelle Übergriffe von Schwarzröcken“ wurde, 2010 veröffentlichte er in der Welt einen viel kritisierten Artikel, in dem er die sexuellen Übergriffe als „Oase der Zärtlichkeit“ innerhalb des Gewaltsystems Zwettl beschrieb.
Der Soziologe Gerhard Amendt bezeichnete diese Verharmlosung als typisch für Missbrauchsopfer, sie zeigte allzu deutlich die Beschädigung des Subjekts bis ins Erwachsenenalter hinein: „Er scheint zeitlebens unfähig, sich gegen seine Missbraucher aufzulehnen.“
In Teilen ist „Mein Fall“ nun eine Korrektur früherer Positionen. Die Tat, so schreibt er, wolle er sich „nicht länger schönreden“. Es könne keine einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen einem 29-Jährigen – so alt war ‚Haupttäter‘ Eder, als er nach Stift Zwettl kam – und einem Elfjährigen geben.
Was er aber weiterhin ablehne, sei der öffentliche Pranger. „Empathie mit den Tätern“ gehöre „ein wenig zum humanistischen Standard“. Das bedeutet auch, dass er sich einfachen Täter-Opfer-Schemata verweigert.
„Mein Fall“ ist unchronologisch geschrieben, Haslinger springt bewusst zwischen der heutigen Bewertung der Ereignisse und der Einschätzung des kindlichen Ich und gleicht beides – mehr als noch vor zehn Jahren – miteinander ab. Er rechnet auch mit den österreichischen Opferschutz-Initiativen ab, die ihn, seit er sich November 2018 an sie wandte, von einer Stelle an die nächste verwiesen.
In erster Linie ist „Mein Fall“ ein Buch über ein rigides und erbarmungsloses Gewalt- und Strafregime und über unterdrückte Sexualität. Ein Buch, das Zwischentöne kennt, das in der Suchbewegung nach der Wahrheit bleibt. Und eines vermitteln die 144 Seiten dem Leser ganz sicher: womit, wogegen und wofür Menschen kämpfen, die als Kind missbraucht wurden.
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