Buch über die Ostsee: Das imaginierte Meer
Der Galiani Verlag hat eine Anthologie mit Berichten über die Ostsee herausgegeben. Und tut sich schwer, einen „blauen Faden“ für dieses Meer zu finden.
Vielleicht sieht man nur unscharf, was man Tag für Tag vor Augen hat. Sieht nicht das Große und Ganze, sondern eher die Details, das Vertraute also, die eigene Umgebung. Vielleicht muss einer, der das Große und Ganze sehen will, von außen kommen. So wie der Norweger Tor Eystein Øverås. „Ich habe immer gedacht, dass Meere und Flüsse trennen, aber historisch ist es genau umgekehrt“, schreibt der 1968 geborene Autor und Literaturwissenschaftler. „Meere und Flüsse vereinten, Meere und Flüsse waren die einfachsten Transportwege, Meere und Flüsse verbanden Menschen.“ Das galt und gilt für den im nordnorwegischen Bodø geborenen Øverås auch für die Ostsee. „Die Ostsee verband Menschen. Das Trennende sind wohl eher die Berge. Wenn man es so sieht, liegen Norwegen und Schweden Rücken an Rücken.“
Acht Monate lang hatte Øverås 2005 die Ostsee umrundet, er war aufgebrochen zu einer „literarischen Reise“, um herauszufinden, ob es zwischen Günter Grass’ Danzig, Thomas Manns Lübeck, Anna Achmatowas St. Petersburg, Ingmar Bergmans Gotland oder Peter Olov Enquits Västerbotten einen gemeinsamen Ton gibt, eine Ostseesprache, vielleicht sogar eine Ostseeliteratur. Mehr noch. Der Norweger wollte fern seiner Heimat herausfinden, ob es sie überhaupt gibt, die Ostsee. Nicht nur als die Summe ihrer Städte, Häfen und Strände, sondern im Sinne eines verbindenden Moments, eines, wenn man so will, „blauen Fadens“.
Die Ostsee, das ist auch der Titel einer gewaltigen Anthologie, die Klaus-Jürgen Liedtke herausgegeben hat. „Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren“ heißt es im Untertitel, aber Liedtke weiß natürlich, dass es sich bei der Ostsee, dieser „kleinen Schwester des Mittelmeers“, um ein vergleichsweise junges Meer handelt. Und so sind, sieht man einmal von Tacitus’ „Germania“ oder Adam von Bremens Bericht „Über die Baltische See“ ab, die meisten Reportagen und literarischen Fragmente in diesem Sammelband jüngeren Datums, also aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie reichen von Wilhelm von Humboldts „Reise nach Rügen“ bis zu einer erotisch aufgeladenen Geschichte von Peter Wawerzinek mit dem Titel „Das Meer an sich ist weniger“.
Und genau da liegt dieser Moment der Irritation: Wo entlang, bitte schön, geht es zwischen all diesen Texten zur Ostsee? Wer wagt den Blick von seinem vertrauten Meeresort zur Gegenküste? Wer zieht Vergleiche oder hinterfragt sie? Oder ist das, trotz des Titels, gar nicht so wichtig? Allein die Gliederung der 650 Seiten starken, großformatigen, wertig aufgemachten Anthologie lässt es vermuten. Da gibt es Texte, die sind unter der Überschrift „Ankunft und Aufbruch“ versammelt, unter „Wahre und erfundene Reisen“, „Historien und Schlachten“, „Hart am Wasser“, „Städte am Meer“, „Provinzen“ sowie „Inseln und Peripherien“. Aber wo bleibt die Ostsee?
Natürlich weiß Liedtke, der aus dem Schwedischen und Dänischen übersetzt und seit 2010 die virtuelle Ostseebibliothek „Baltic Sea Library“ herausgibt, selbst um das Problem. In einem Akt der Vorwärtsverteidigung fragt er sich, ob der Titel seines Buches „nicht eine Hochstapelei“ sei – um dann flugs einzuräumen, dass sich nicht alle Texte als anthologiefähig erwiesen. Liedtke geht es also eher um die Summe der einzelnen Beobachtungen denn ums Große und Ganze, wenn er in seinem – lesenswerten – Vorwort schreibt: „Doch wirkt die Ostsee für viele Erfahrungen als Magnetfeld, und jeder Blick auf die Ostsee erschafft seinen eigenen Kosmos, seinen eigenen potenziellen Kanon. In all ihrer Synthese und Komplexität – mit Brüchen und Diskontinuitäten –, ergeben sie einen Gesamtzusammenhang.“ Das war auch das erzählerische Konzept des 2003 bei Mare erschienenen Buches von Christoph Neidhart über die Ostsee als „Meer in unserer Mitte“.
Klaus-Jürgen Liedtke (Hg.): „Die Ostsee“. Galiani, Berlin 2018, 656 Seiten, 39 Euro
Wie Tor Eystein Øverås haben in Liedtkes Textsammlung nur noch zwei Autoren die gesamte Ostsee bereist: Augustin Freiherr zu Mörsberg und Beffort im Jahre 1592 sowie Johann Gottfried Seume 1805. Ersterer beschränkt sich in seinem Reisebericht auf eine Aufzählung der Städte, in der er sich niederließ, um am Ende zu resümieren, dass vor allem Stockholm „einen großen Handel von Kaufleuten aus vielen Ländern“ aufzuweisen habe. Und auch Seume lobt Stockholm als „Paradies des Nordens“.
Freilich geben weder der Freiherr noch der Erfinder der modernen Reiseliteratur Aufschluss über den „blauen Faden“. Auch wenn ihr Interesse den jeweiligen Handelsbeziehungen und Landesherrschaften galt, ist die Fokussierung auf Stockholm nur begrenzt hilfreich. 1809 nämlich, vier Jahre nach dem Seume-Bericht, endet die schwedische Dominanz im Ostseeraum und die russische bricht an. Allerdings ist Petersburg eher ein russischer Vorposten an der Ostsee als eine Ostseestadt, die weit nach Russland hineingewirkt hätte.
Dennoch sind beide Berichte aufschlussreich, weil sie, nolens volens, „den Norden“ ins rechte Licht setzen. Denn das 19. Jahrhundert ist auch das Jahrhundert des Tourismus, und dieser bringt jene Ostseebilder ins Spiel, die bis heute nachklingen: weiße Strände, nordisches Licht, noble Kurorte, die Lebensart des deutschbaltischen Adels, die Backsteingotik. Sind es die Touristen, die Bilder der Ostsee als eines imaginierten Meeres und ihres Kosmos schaffen und verbreiten, von dem Liedtke in seinem Vorwort spricht? Doch auch da bringt Liedtke gleich wieder ein Warnschild an: „Stets ist die Ostsee größer als die eigene, begrenzte Perspektive.“
Etwas bescheidener ist Tor Eystein Øverås. Er findet am Ende in der Landschaft rund um das Meer den kleinsten gemeinsamen Nenner, wenn er schreibt: „Die Ostseelandschaften zu bereisen, der Küste um das Meer herum zu folgen, löst immer stärker das Gefühl aus, Landschaften zu bereisen, die um das Meer einen Ring schlagen. Man mag an Grenzübergängen aufgehalten werden, die Ostseelandschaft geht weiter.“
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