Buch über Ungarn, Europa und Russland: „Bis gerade eben an Putins Seite“
Seit dem Ukraine-Krieg zeigt sich Viktor Orbán der EU gegenüber konsensfähig. Lacy Kornitzer über den Zustand Ungarns vor den Wahlen.
taz am wochenende: Herr Kornitzer, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat aus seiner Bewunderung für Autokraten wie Putin oder Erdoğan und seiner Ablehnung der Europäischen Union nie einen Hehl gemacht. Kann ein solcher Machthaber in einem Nachbarland der Ukraine zu einer weiteren Gefahr für Europa werden? Oder wird der russische Angriff auf die Ukraine das Verhältnis Ungarns zur EU positiv verändern?
Lacy Kornitzer: Auch wenn Orbán in der Vergangenheit schon oft hegemoniale Ansprüche angemeldet hat – „Ungarn grenzt praktisch an Ungarn selbst“ –, ist eine ähnliche Aggression wie die Putins, etwa gegenüber der Südslowakei oder der Westukraine, gegenüber Westrumänien oder der Vojvodina im Süden, undenkbar, zumal für ein Mitglied der Nato. Der Traum von Großungarn dürfte einstweilen ein Traum bleiben. All die Jahre bis gerade eben noch an Putins Seite, zeigt sich Orbán seit Kriegsbeginn der EU gegenüber konsensfähig, wohl zum ersten Mal.
Angesichts der anstehenden Wahlen im April braucht er Pluspunkte wie auch die erwartbaren Zahlungen der EU an Länder, die Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen. Zudem sind die Menschen aus der Westukraine, die jetzt nach Ungarn kommen, überwiegend Angehörige der ungarischen Minderheit. Schon vor Jahren erhielten sie ihre zweite, die ungarische Staatsbürgerschaft von Orbán. Es wäre gut, für alles Spätere, sollte Putins mörderischer Krieg irgendwann enden, eine sichere Prognose geben zu können. Doch das ist jetzt unmöglich.
In Ihrem neuen Buch „Über Destruktivität“ beschreiben Sie Orbán als rechten Revanchisten, der völkischen Großmachtfantasien anhängt. Ist das nicht eine erschreckende Parallele zu neuerdings wieder erstarkten ähnlichen Nostalgien in China oder Russland?
Lacy Kornitzer ist Autor, Regisseur und Übersetzer. Er lebt in Berlin.
Für Ungarns Politik ist die nostalgische, revanchistische Komponente unerlässlich. Diese falsch gestimmte Saite, an der gezupft wird, soll bloß Krach erzeugen, damit nichts anderes, gar Gegenwärtiges aus der Welt in den Raum dringt. Ein Gebaren, das in der Nachkriegszeit bis 1989/90 phasenweise pausierte. Obschon die nationalistische Grundhaltung – wie in anderen kleinen Ländern ohne Kontakt zur Welt – auch damals viel Platz einnahm in den Seelen bestimmter Schichten.
Ihre Worte evozieren eine Art Glücksversprechen: das schönste Land mit dem schönsten Abschnitt der Donau, die schönste Sprache, das schönste Helden- und Opfertum der Geschichte. Der Traum von einem Zurück zu den „historischen“ Grenzen. Die Parallelen zu den von Ihnen erwähnten Ländern bestehen. Doch die Rede davon in der Gegenwart ist kaum mehr als Opium für die Redner und die Unbelehrbaren, die zahlreich sind.
Im April wird in Ungarn gewählt, Regierung und Opposition sind in Umfragen fast gleichauf, Orbáns Sieg ist so gefährdet wie nie. Könnte der Krieg in der Ukraine die Wahl in Ungarn beeinflussen?
Wahrscheinlich will in Ungarn und anderswo in Europa kein Mensch Krieg. Vielleicht gibt es vereinzelte Gelüste, doch sie bleiben Gelüste. Da es jetzt diesen verachtenswerten Krieg gibt, wird er auf die Wahlen sicher Einfluss haben, und der Schritt, nun mit der EU zu kooperieren, stärkt Orbán. Selbst wenn er abgewählt würde, bliebe die Innenpolitik noch lange so, wie sie ist: Die nächste Regierung, so bunt sie zwischen rechts und liberal auch sein mag, wenn sie zustande kommt, wird nicht viel ändern können: Orbán hat vorsorglich Gesetze erlassen, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert oder aufgehoben werden können.
Außerdem ist und bleibt Orbáns Partei Fidesz die stärkste Fraktion, sie kann jeden Versuch, die Politik zu korrigieren, boykottieren, so wie Orbán dies auch schon in der Opposition zwischen 2002 und 2010 getan hat. Bei alldem ist es eine Art Schicksalswahl. Denn wenn Orbán wiedergewählt wird, bleibt Ungarn ein despektierlicher Partner für die EU. Und für die Opposition, eine unwahrscheinliche Mischung von Rechtsnationalisten bis hin zu Gemäßigten, wird es unmöglich sein, sich in absehbarer Zeit erneut auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.
Lacy Kornitzer: „Über Destruktivität. Eine essayistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 224 Seiten, 18 Euro
Wie genau hat es Orbán geschafft, in einem Land, das immerhin der EU angehört, seine demokratiefeindlichen Ziele zu verfolgen?
Mit der Zauberformel von der „nationalen Souveränität“ konnte er die EU lange Zeit irritieren. Im Land selbst fiel es ihm nicht schwer, antidemokratisch vorzugehen, denn in Ungarn herrschten stets obrigkeitsstaatliche Formen. Orbáns Demagogie und Blasiertheit, seine Verstümmelung der Pressefreiheit und der Gewaltenteilung sowie seine Beförderung von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus knüpfen in Ungarn an eine beharrliche Tradition an – nur seine systematische Korruption hat noch nie dagewesene Ausmaße.
Zudem ist es ihm gelungen, seine Bekämpfung der Demokratie als Stärkung der speziellen ungarischen Form von Demokratie auszugeben. Nicht gegenüber den vielen Intellektuellen, aber gegenüber großen Teilen der Bevölkerung, die sich für solche Bagatellen nur geringfügig interessiert.
Orbáns Ideen scheinen seit Jahren in Ungarn auf äußerst fruchtbaren Boden zu fallen. Inwieweit ist auch die ungarische Bevölkerung mitbeteiligt am Erfolg von Orbáns Politik?
Das perpetuierte System einer „Unwissensgesellschaft“ begründet eine gesellschaftliche Ordnung. Zwar gibt es einen veritablen Hass auf Orbán – das sind dann für ihn die „Vaterlandsverräter“ –, aber auch eine breite Schicht, deren Sprache er spricht. Wo er Hände schüttelt, sich anbiedert, Gemeinplätze ausschüttet. Die Rede von der „nationalen Größe“ sorgt für Rausch. Zudem erhöht er vor jeder Wahl die Renten um 50 Cent und senkt die Gaskosten, verteilt sonstige Geschenke, wichtige Posten. Ein Wohltäter, auf den man stets wartet. Außerdem feiern die Medien die bedeutenden Erfolge seiner Regierung, und es gibt nur wenige, die sich mit den tatsächlichen Inhalten auseinandersetzen. Irgendwann wird man dessen müde; der Populismus gewinnt.
Wenn Sie an manchen Stellen Ihres Buchs etwa vom „deformierten Charakter“ oder dem „knechtischen Wesen“ der Ungarn sprechen, könnte man fast den Eindruck bekommen, Sie reagieren auf Orbáns affirmatives völkisches Denken einfach nur mit einem pessimistischen.
Orbán, am Nullpunkt sprachlicher Wiederholung, wedelt mit völkischen Urbildern, in dem Glauben, dass sie die dahintersteckende, ruchlose Politik verbergen. Was es mit dem Völkischen auf sich hat, konnte man ja in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts physisch erfahren. Ablehnung wäre der richtige Begriff, nicht Pessimismus. Auf das Jetzt und die nahe Zukunft kann man kaum optimistisch blicken. Aber ein Leben, in dem man beständig mit dem Schlimmsten rechnen muss, ist kein Leben. „Deformierter Charakter“, „knechtisches Wesen“ sind indessen Zitate aus dem Werk von István Bibó, dem wichtigsten ungarischen Denker der Nachkriegszeit. Er war Geschichts- und Rechtswissenschaftler, Politiker, Reformer, Aufklärer und – nach diversen Haftstrafen und seiner endgültigen Ausschaltung – Bibliothekar.
Und doch unterstreichen Sie auch die Notwendigkeit von internem Widerstand, von „Résistance“ gegen das autokratische Regime. Was können die Ungarn tun? Und was die EU?
Obwohl offener Widerstand wichtig, der einzige Ausweg wäre, nimmt man Dinge hin im Wissen, dass man sie nicht hinnehmen kann. Die unbewusste Verinnerlichung von Kafkas Sentenz: „Es gibt Hoffnung, nur nicht für uns.“ Der Zusammenhalt der EU jetzt gegen Putins Krieg ist beispielhaft. Das hätte schon im Fall von Aleppo geschehen müssen. Und gegen Orbáns Schwindel all die Jahre. Die Ungarn haben jetzt die Möglichkeit, ihn abzuwählen.
Sie haben Ungarn schon unter kommunistischer Herrschaft verlassen und leben seitdem in Deutschland. Waren Sie jemals versucht zurückzukehren?
Keine Sekunde, nicht einmal versehentlich. Meine Beschäftigung mit Ungarn jetzt ist die Ausnahme wegen der Zustände, die im Buch beschrieben sind. Das Abendland mit der ständig untergehenden Sonne bietet unendliche Beschäftigungsfelder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?