piwik no script img

Buch über „Seniorendemokratie“Alte weiße Männer

Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter möchte die partizipative Demokratie stärken. Herrschende Altersbilder seien dabei kritisch zu durchdenken.

„Eklatante soziale Unterschiede“: Senioren Foto: picture alliance/dpa

Emanuel Richters Buch über die „Seniorendemokratie“ ist von einem, wie er sagt, „Fluch und Segen“ des Themas geprägt: Es gibt demokratie­theo­re­tisch kaum etwas so Reizvolles wie die Vorstellung von einer umfassend gebildeten Gesellschaft, die oft mit zunehmendem Alter korreliert – und kaum etwas Deprimierenderes, als sich politische Entscheidungsträger/innen allein im fortgeschrittenen Alter vorzustellen, die jenseits der Interessen jüngerer Generationen agieren.

Nun gibt es seit Jahren intensive Forschung über die Partizipationskontexte, insbesondere auf kommunaler Ebene, die zeigen, dass direktdemokratische Strukturen vor allem die Klientel der formal gebildeten, gut situierten, zumeist männlichen Menschen im Pensions­alter in Mitbestimmungsprozesse einbinden. Die Idee der Deliberation in Deutschland ist, praktisch umgesetzt, oft die Praxis einer „Seniorendemokratie“.

Das dem zugrunde liegende soziale Spannungsverhältnis hat auch Richter im Blick, wenn er auf die „eklatanten sozialen Unterschiede“ unter den Senioren (bedauerlicherweise geht es in dem Buch fast gar nicht um Seniorinnen) hinweist, gar von einem „sozialen Spaltpilz unter den Senioren“ spricht: „Nur die Menschen mit qualifizierten Bildungsabschlüssen, mit dauerhafter Beschäftigung und mit überdurchschnittlichem Einkommen erlangen die Aussicht darauf, im Alter zu den ‚bessergestellten‘ Senioren zu zählen.“

Zugleich droht die „Seniorendemokratie“ aber immer wieder auch ein fundamentales Missverständnis des Demokratischen mit sich zu bringen: nämlich den Glauben, dass es in der Demokratie darum gehen würde, die eigenen egoistischen Partikularinteressen umzusetzen.

Das Buch

Emanuel Richter: „Seniorendemokratie. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 261 Seiten, 20 Euro

Dies führt auch zu dem Phänomen, das in der aktivistischen Kritik oft auf die Parole der „alten weißen Männer“ zugespitzt wird: dem Typus des formal gut gebildeten, durchaus finanziell abgesicherten, aber eben gnadenlos egoistischen und vor allem antiaufklärerisch agierenden Mannes.

Umfassende statistische Daten

Richter verbindet in seinem Buch empirische mit theoretischen Dimensionen, man findet gleichermaßen umfassende statistische Daten zur Untermauerung seiner Thesen wie weitreichende, das Themenfeld souverän über Fächergrenzen hinweg überblickende theoretische Reflexionen.

Einzig problematisch daran ist, dass Richter sich – obgleich profilierter Demokratietheoretiker – an vielen Stellen von einem Artefakt blenden lässt: der Statistik. Man kann es nicht oft genug betonen, da in statistischen Daten oft so etwas wie ein Zauber zu wirken scheint, der die unverstandene Welt verstehbar macht: Es gibt mindestens zwei fundamentale Fehlannahmen in Bezug auf Statistik. Die eine besteht darin, dass Statistiken stets Kausalitäten – und nicht nur Korrelationen – belegen.

Die andere Fehlannahme besteht darin, Statistik eine prognostische Qualität zuzusprechen – auch dies geht fehl, da Gesellschaften eben gerade nicht nach der Logik toter Zahlen operieren, sondern dynamisch sind und sich fortlaufend verändern.

Insofern also die Grundannahme einer fortschreitenden Veralterung allein mathematisch-prospektive Qualität hat und damit genauso wahr wie komplett falsch sein kann, ist der Blick auf die theoretischen Überlegungen von Richter umso wichtiger.

Demokratie statt Demenz

Im Kern lautet Richters Forderung: „Demokratie statt Demenz“. Es will „bürgerschaftliches Engagement und eifrige politische Mitsprache“ stärken und im Gegenzug „Ausgrenzung aus den sozialen Lebenszusammenhängen oder Isolation mit der Folge gesundheitlicher Beeinträchtigung und pflegeintensiver Abhängigkeit“ reduzieren. Davon erhofft er sich einen „greifbaren demokratischen Gewinn“ und eine „Stärkung der partizipativen Demokratie“, die nicht nur den Senior(inn)en, sondern der gesamten Gesellschaft nutzen soll.

Richter hofft darauf, dass von den Senior(inn)en ein „basisdemokratischer Impuls“ ausgehen könnte, bei dem sich ein an die „Überalterung gebundener Demokratisierungsschub entwickeln“ könnte, der „von einer Altersgruppe getragen wird, aber allen Generationen Partizipationsgewinne verschafft“.

Ob man die Senior(inn)en dabei allerdings zu den „Hoffnungsträgern einer weitreichenden Demokratisierung der Politik“ erklären sollte, bleibt fraglich. Denn: die Frage ist, ob die „demente“ Demokratie wirklich etwas mit dem Alter zu tun hat – oder ob es nicht vielmehr neben sozialen vor allem fundamentale politische Differenzen sind, die aus der normativen Option einer Partizipationserweiterung real nicht selten den „alten weißen Mann“ hervortreten lassen.

Unter diesem Blickwinkel wäre die statistische Frage, ob die Gesellschaft „überaltert“ ist, für demokratische Partizipation unbedeutend, weil nicht Demografie über weltanschauliche Fragen entscheidet, sondern allein die Weltanschauung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Der Autor selbst ist hochproblematisch: www.neues-deutschl...utter-diskurs.html

  • Politik ist eben auch z.T. heute noch ein Hobby derer die sich das leisten können weil sie nicht (mehr) alle Energie für ihren Platz in der Gesellschaft, für die eigenen Kinder, für die hilfsbedürftigen Eltern usw. aufbringen müssen. Die anderen werden von der Wirtschaft die fürs "Partizipieren" unverschämt hoch bezahlt.



    Um das wenigstens einmal in der Geschichte der Menschheit zu "reparieren" wären Bürgerrate aus Menschen mit jeweils völlig unterschiedlichem Hintergrund oder ein ausreichendes Grundeinkommen für alle notwendig. An besten beides.



    Interessant dass Emanuel Richter dieses Jahr immerhin auch schon 67 wird. Ich hoffe mal dass er diesen Aspekt in sieben weiteren Veröffentlichungen nicht völlig übersieht... Sonst wäre er einen Artikel in der taz eigentlich nicht wert.

  • Der werktätige AWM ist tagsüber beim Schaffen, und nach Feierabend mit der Familie beschäftigt.



    Er hat keine Zeit für die Verfolgung von Ratssitzungen, oder das Studium verschiedenster Polit-Artikel und -Abhandlungen.



    Der verrentete AWM genießt seine Ruhe, oder sucht nach einem neuen Lebenszweck.



    Wenn der neue Lebenszweck darin gefunden wird, sich in das Leben anderer einzumischen, oder sogar darüber bestimmen zu wollen, ...



    .



    Daher:



    Mehr Demokratie, ja, aber über ausgeloste Bürgerforen!

  • Fleißig "Senior(inn)en" gegendert, aber dann doch den "alten weißen Mann" im Visier.



    War nach der Überschrift schon wieder so klar... schade, dass das eigentliche Anliegen Herrn Richters damit überdeckt zu werden droht.